Der weite Weg nach Hause
nickte. Er dachte an die missmutigen erwachsenen Kinder, die regungslos am Bett gesessen und sich gewünscht hatten, sie wären woanders.
»Wussten Sie, dass Mrs. Constad einmal an einer festlichen Darbietung teilnahm, die das Kloster beim Empfang des Vizekönigs gab?«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Doch. Sie war die eine Hälfte vom O in ›Willkommen‹.«
Im Hospiz St. John’s war es dunkel. Die Vorhänge waren gegen den hellen Tag zugezogen. Es roch nach Weihrauchkerzen und nach etwas anderem: Es war der alte vertraute Gestank der Krebsstation.
Lev nannte einer Nonne, die eine Plastikschürze über ihrer Tracht trug, seinen Namen. Sie bat ihn, auf einem Stuhl in der kleinen Eingangshalle zu warten. Ein alter Mann ihm gegenüber wartete ebenfalls, hatte aber einen in Zeitungspapier eingewickelten Fliederstrauß dabei, der Lev bewusst machte, dass er kein Geschenk für Ruby Constad hatte. Und dann fielen ihm all die Dinge ein, die er Marina mitgebracht hatte, als sie imSterben lag: manchmal Wildblumen, aber meist Erinnerungsstücke, an denen sie gehangen hatte und die sie jetzt vermisste, Familienfotos, Mayas erste Zeichnungen, eine Mickymausuhr, ein grünes Vergrößerungsglas, einen Vogel aus Holz ...
»Kommen Sie mit, mein Herr. Sie können Mrs. Constad jetzt sehen. Aber da Sie kein Familienmitglied sind, bleiben Sie bitte nicht länger als ein paar Minuten. Wir wollen, dass sie es möglichst friedlich hat.«
Lev folgte der Nonne einen Flur entlang, der absichtlich dunkel gehalten war und nur von kleinen Inseln aus Teelichtern beleuchtet wurde. Es war so still, dass ihm seine eigenen Schritte laut und schwer vorkamen, wie von jemandem, der eigentlich nicht hier sein sollte. Ihm war leicht übel. Er bekam Atemnot und dachte sehnsüchtig an die frische Luft draußen auf der Straße.
Rubys Zimmer war sehr klein − eine Zelle. Das Bett war hoch, und ein Metallgitter hinderte den Körper darin am Herausfallen. Eine Lampe verbreitete trübes Licht, und neben dem Bett standen ein kleiner Nachttisch und ein zerschlissener Korbstuhl. Darüber, an der weißen Wand, hing ein Holzkreuz.
Ruby lag auf dem Rücken, ihre Nase ragte spitz in die Luft. Ihre Hände waren auf der Brust gefaltet, als hätte eine der Schwestern sie so arrangiert. Kaum wahrnehmbar unter den Händen hob und senkte sich langsam ihre Brust.
Lev stellte sich ans Bett und schaute zu ihr hinunter. Das langsame Sterben schien bei Ruby Constad − zumindest in diesem Moment − nicht mit einem Todeskampf verbunden zu sein, wie ihn Marina durchlitten hatte. Es war, als habe sie, mit dem Tod als Gefährten, still dagesessen, die Nahrung verweigert und die Seiten ihres Fotoalbums umgeblättert, und als die letzte Seite umgeschlagen war, war sie hierher gekommen, ins St. John’s, in das Dämmerlicht, das dem endgültigen und absoluten Dunkel vorausging.
Lev sagte ihren Namen, die Hände zuckten, aber der Kopf bewegte sich nicht.
»Wer ist da?« Die Stimme klang hoch und fast piepsig, wie die eines Kindes.
»Ich bin es, Lev.«
Jetzt drehte Ruby den Kopf, und sie blickte hoch. Lev fragte sich, ob sie ihn bei der schwachen Beleuchtung überhaupt erkennen konnte. Er setzte sich auf den Stuhl und hielt sein Gesicht ganz nah an ihrs.
»Ach ja ...«, sagte sie schließlich. »Ich habe den Schwestern gesagt: Das ist der mit dem schönen grauen Haar.«
Auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln. Ihr Atem roch sauer.
»Jetzt ...«, sagte sie. »Jetzt ...«
Ihre Hände griffen nach den Metallstäben, und sie versuchte, sich im Bett aufzurichten, aber sofort klang ihr Atmen erstickt, und sie begann zu würgen. Auf dem Nachttisch stand eine Nierenschale, und Lev hielt sie ihr unters Kinn, als sie einen faulig riechenden Schleimfaden ausspuckte. Sie sank zurück in die Kissen.
»Das Alter ist nichts für Weichlinge« , sagte sie. »Wer hat das gesagt? Ich habe es vergessen. Aber er hatte recht.«
Lev wischte ihr den Mund ab und stellte die Schale weg. Er wünschte, er hätte üppige Fliederzweige mitgebracht, damit sie ihr Gesicht in den Duft hätte tauchen können.
Er wartete. Mit dem Handrücken streichelte er sanft Rubys Schläfe. Nach einer Weile sagte sie: »Auf dem Nachttischding da ... neben dem Wasserglas ... liegt ein Umschlag, Lev. Der ist für Sie. Können Sie ihn sehen?«
Er spürte, dass das Streicheln sie tröstete, wollte deshalb nur ungern die Hand wegziehen, aber er konnte den Umschlag sehen und nahm ihn. In zittriger Schrift standen
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