Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
prächtigen Stahloberflächen, der kräftige Abspülhahn ließen ihn vergessen, dass es sich um niedrige Arbeit handelte. Die Kacheln beschlugen. Auf die Fläche rechts neben ihm knallten die Köche Schüsseln, Siebe, Messer, Schmorpfannen, Pürierstäbe und Schneidebretter, und Lev griff mit der Hand danach und tauchte sie ein. Man hatte ihm den Spitznamen »Schwester« gegeben, also würde er jetzt, in seiner Vorstellung, zur Krankenschwester für diese Dinge. Er befahl sich, jede einzelne Pfanne, jedes Gerät auf klinische Weise zu untersuchen, ihnen listig den Schmutz abzuluchsen und diese mühselige Verwandlung jeden Augenblick unter Kontrolle zu behalten.
    Nach einer Weile − Lev hatte heißes, sauberes Wasser eingelassen und startete einen neuen Spülgang, während die Köche sich über ihre Flammen beugten und die Luft vom Geruch nach gedünstetem Fisch geschwängert war − ließ er seine Gedanken wandern. Er malte sich aus, wie er sich im weißen Baumwollkittel einer Krankenschwester zu dem Schwefelsee in Jor aufmachte und hilflose Menschen in die graue Tiefe eintauchte. Oben auf einem Schornstein beobachteten Störche, wie das Seewasser die Menschen überspülte und ihre bleiche Haut durch den bläulichen Nebel schimmerte.
    Einer dieser hilflosen Menschen war Marina, und Lev begann sie abzuschrubben. Er scheuerte ihren Hals, ihre Achseln, ihren Hintern, ihre Füße, ihre Ohren; er spülte ihren Mund aus. Dann legte sie sich wieder mit dem Rücken flach aufs Wasser, und Lev hob sie mit den Armen hoch und wickelte sie in ein sauberes weißes Handtuch und setzte sie dort ab, wo die anderen Menschen warteten, auf einem hölzernen Balkon. Sie war natürlich nicht geheilt. Seine Aufgabe hatte gerade erst begonnen. Was sie heilen würde, war seine Krankenschwester-Ausdauer, seine Bereitschaft, das Untertauchen und das grobe, aber unvermeidliche Scheuern und Schrubben ihres Fleischs zu wiederholen,es immer und immer noch einmal zu wiederholen, ohne aufzugeben, ohne Pause zu machen ...
    Neben ihm roch es plötzlich nach Essen, und das weckte ihn aus seinen Träumen. GK Ashe warf ihm einen Wischmopp hin. Er zeigte auf den Fußboden. »Was ist das?«, sagte er. »Du machst aus meiner Küche einen verdammten Binnensee!«
    Lev schaute nach unten. Seine braunen Schuhe standen in einer Pfütze. Eine Schaumwelle schwappte gegen die Rückseite des Gemüsekühlschranks. Seine Schürze war klitschnass, und selbst seine Hose war feucht und klebte ihm an den Beinen. »Entschuldigung, Chef«, sagte er.
    Ashe schnappte sich einen roten Plastikeimer, der unter einem der Becken stand. Er knallte ihn Lev hin, traf ihn damit am Schenkel, der Eimer prallte ab und landete auf dem rutschigen Boden.
    »Wisch es auf!« , sagte er. »Und hör auf zu träumen. Ich habe dich beobachtet. Konzentrier dich!«
    Mario, der gerade mit dreimal Ragù vom Reh mit Pasta zur Restauranttür eilte, rief laut: »Tisch vier ist raus, Chef!«
    Ashe drehte sich um und stürzte sich fast auf Mario. »Das nenne ich nicht ›raus‹, Mario«, brüllte er. »Wo sind die Ballotines?«
    »Kommt als Nächstes, Chef ...«, sagte Mario und verschwand, während Ashe murmelte: »Sag nicht, ein Tisch ist raus, wenn er nicht raus ist. Kann hier denn niemand zählen?«
    Ashe kehrte Levs Arbeitsplatz den Rücken, und Lev ließ den Eimer unter dem Wasserhahn volllaufen und begann den Boden aufzuwischen. Jetzt, wo er nicht mehr am See in Jor war, sondern zurück in der Küche, bemerkte er, dass seine Augen brannten und ein hartnäckiger Schmerz sich zwischen seinen Schulterblättern eingenistet hatte. Er sehnte sich nach einer Zigarette. Das Wasser um ihn herum überraschte ihn, aber er wusste, dass er auch das würde bezwingen müssen, weiter wischen und den Mopp ausdrücken würde, bis die Fliesen trocken waren.Doch er bekam sie nicht trocken. Er bekam sie nicht einmal sauber, weil dort, wo er mit seinen Schuhen hintrat, schmierige Fußspuren zurückblieben.
    Er sah sich nach einem Wischtuch oder einem Lumpen um. (Zu Hause legte Ina, wenn sie den Boden wischte, wie Ahmed Zeitungspapier aus, und das Papier wurde allmählich dunkel von der Feuchtigkeit, und manchmal kniete Maya sich darauf und sah zu, wie die Menschen auf den Fotos langsam schwarz wurden.) In einem unbeobachteten Moment nahm Lev ein sauberes Geschirrtuch vom Haken und kniete sich hin und begann damit den Boden trockenzureiben, während er spürte, wie hinter ihm die Hitze von den Backöfen und den

Weitere Kostenlose Bücher