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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ausgestopft, an Ina schickte. An anderen Tagen wanderte er, wenn er sich kräftig genug fühlte, nach Parliament Hill und sah zu, wie die Drachenlenker ihre seltsamen schnurrenden Matratzen in den blauen Himmel schickten, und sog Gesprächsfetzen an den dunklen Teichen des Parks auf. Er starrte Verliebte und junge Paare mit Babys an und beneidete sie. Die graue Haut seines Gesichts und seiner Arme wurde in der späten Sonne braun. Sein Haar wuchs und fiel ihm über den Kragen.
    An den meisten Tagen standen Lev und Christy nicht vor Mittag auf, dann machte Christy Tee und schlich zu einem griechischen Laden und holte frisches Brot. Manchmal machte er Kartoffelpuffer mit gebratenem Speck und geschmorten Tomaten. Dann saßen Lev und er im kahlen Wohnzimmer am Tisch vorm Erkerfenster, aßen und redeten über Arbeit und Geld oderversuchten, Kinderreime zu singen, die sie ihren Töchtern vor langer Zeit beigebracht hatten. Christy erklärte Lev, dass Irland ein Land der Lieder sei. Er sagte, Musik liege im Grün der Hecken und im Blöken der Schafe; sie liege in den träumerischen Buchten der Westküste und in den Mälzereien der Guinness-Brauereien. Er sagte, England habe keine Lieder, nur Märsche und peinliches altes Gejammer über vergangene Glorie. »Wenn du in ein Land ohne Lieder kommst, geht alles früher oder später den Bach runter«, sagte er. »Das hätte ich vor meiner Heirat mit Angela wissen sollen.«
    Gegen Ende des Sommers ging Lev mit Christy in einen kleinen Laden in Archway, der von jungen Indern geführt wurde, und kaufte ein Mobiltelefon. Ein Angestellter namens Krishna beriet ihn, und er entschied sich für das billigste Modell. Als sie den Laden verließen, klopfte Christy ihm auf die Schulter und verkündete, nun sei er ein »echter Bürger Londons«, ein »modernes menschliches Wesen«, und Lev freute sich über seinen Kauf. Das Gerät hatte ein türkisgrünes Gehäuse. Noch gab es allerdings fast niemanden, den er hätte anrufen können, außer Rudi, aber er betastete das Telefon gern mit der Hand und hörte sich immer wieder die Auswahl an Klingeltönen an. Und wenn er frühmorgens von seinem Nachtbus nach Hause in die Belisha Road ging, rief er manchmal Christy an − ganz gleich, wo Christy gerade war, ob im verrauchten Zimmer eines Freunds oder in einer irischen Kneipe, die niemals schloss − und sagte: »Ich bin’s, Lev. Wollte nur anrufen.«
    »Lev«, sagte Christy dann jedes Mal, »guter Mann! Ich bin gleich zu Hause.«
    Aber das war er selten. Wenn er irgendwo klempnern sollte, sagte er den Leuten, er arbeite nur abends, und wenn Lev zum GK Ashe aufbrach, saß Christy über einem Puzzle am Tisch oder hängte Bettlaken und T-Shirts über der Badewanne auf. Doch eines Nachmittags, bevor Lev zur Arbeit ging, zeigte Christy ihm einen Stapel Geldscheine.
    »Bares Geld«, sagte er, »siehst du das? Bargeld ist Gold, vergiss das nicht, Lev. Lass dich bar bezahlen, ich finanziere nicht irgendeinen Vollidioten, der die Bäume malträtiert oder die Scheißstraße aufgräbt. Ich subventioniere keine Kriege im Ausland und unterstütze nicht, dass die Klos im Parlament neu gestrichen werden. Ich bezahle für mein eigenes Leben, basta. Und so, finde ich, soll es auch sein.«
    Christy hielt Lev das Geld hin − ein Päckchen Zwanziger −, damit er es bewunderte. Nachdem Lev gebührend gestaunt hatte, bot Christy ihm an, mit zu GK Ashe zu gehen und ihn dazu zu bringen, dass er Lev bar bezahlte, aber Lev sagte: »Nein, Christy. Vielen Dank für deine Gedanken. Aber ich habe jetzt Bankkonto. Damian hat mir geholfen. Manchmal gehe ich, um diese Bank anzusehen, eine Clerkenwell-Zweigstelle, um Stolz auf mein Geld zu fühlen, so sicher jetzt.«
    »Gut«, sagte Christy. »Ich respektiere deine sentimentale Zuneigung zum Hort der kapitalistischen Erpresser. Aber es ist Raub, wenn sie dir die Sozialversicherung und all das Extrazeug abziehen, wo dein Stundenlohn so jämmerlich ist.«
    »Ich bekomme freies Abendessen.«
    »Klar. Das ist bestimmt etwas wert. Hast einen prima Chef, der deinen Bauch einmal am Tag füllt. Aber ich habe dich nach Hause kommen sehen. Du bist fertig. Die lassen dich wie einen Sklaven arbeiten.«
    »Nein«, sagte Lev. »Ich bin okay. Und schicke Geld nach Hause.«
    »Wie viel schickst du denn? Viel kannst du doch gar nicht sparen.«
    »Je nachdem. Manchmal zwanzig Pfund die Woche. In meinem Land reicht das für lange.«
    »Wirklich? Allmächtiger! Wieso ziehen wir dann nicht alle

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