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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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sich dann auf den Hocker, auf dem GK spätabends häufig saß, wenn er seine Gerichte plante.
    »Edik ist ein Ein-Personen-Hund, und diese Person bin ich.«
    Lev schwieg, während Vitas weiter schluchzte, dann stand er auf und ging hinüber in Damians Barbereich. Er nahm ein Schnapsglas und goss etwas Wodka hinein. Er brachte Vitas das Glas. »Trink«, sagte er.
    Vitas stürzte den Wodka hinunter. Sein Schluchzen versiegte endlich. Er wischte sich die Augen mit dem Geschirrtuch.
    »Wie hältst du das hier aus?«, fragte er. »Diesen Scheißort ...«
    »Ich arbeite«, sagte Lev.
    Vitas sah sich verloren in der Küche um, die immer noch nicht sauber war. »Ich hasse das«, sagte er. »Und ich hasse den Chef!«
    Lev zuckte die Achseln. »Versuch, es nicht zu tun«, sagte er.
    »Wieso? Dieser Mann ist schrecklich. Er ist gemein. Ich hasse ihn. Er ist ein arroganter Bastard. Schon wie er mich Schwester nennt. Ich bin keine verdammte Schwester.«
    »Ich weiß. Ignorier das einfach, Vitas. Wenn du bei GK bleibst, hast du vielleicht eine Zukunft in England.«
    »Ich will keine Zukunft in England. Ich hasse England. Es ist genauso wie das Drecksloch Jor, nur mit mehr Muslimen und mehr Schwarzen. Ich möchte wieder zurück in mein Dorf zu Edik.«
    Lev sah den Jungen an und dachte, dass Jugend häufig zusammenging mit Melancholie.
    »Wo wohnst du?«, fragte Lev.
    »In einem Saustall von Zimmer. Hackney Wick. Und Wick ist voll von Immigranten-Abschaum.«
    Das überhörte Lev. Er sagte: »Weißt du, wie du nach Hause kommst?«
    »Ja. Mit dem Nachtbus.«
    »Gut. Dann geh nach Hause, Vitas. Ich mach das hier fertig.«
    Vitas schwieg. Jetzt wirkte er leicht verlegen. Er wischte sich eine feuchte Haarsträhne aus den Augen. Er putzte sich die Nase mit Küchenkrepp. »Woher kommst du denn?«, fragte er nach einer Weile.
    »Aus Auror«, sagte Lev. »Kleiner Ort, wie deiner. Oberhalb von Baryn.«
    »Da, wo die diesen Damm bauen wollen?«
    »Was?«
    »Ich habe gehört, sie planen da einen Staudamm − im Fluss Baryn.«
    »Wo hast du das gehört?«
    »Weiß ich nicht. Irgendwo. Vielleicht war es auch woanders.«
    Lev wurde sehr still. Er dachte an den Baryn, daran, dass er aus den einst bewaldeten Hügeln oberhalb von Auror kam und durch die Wiesen hinter Inas Garten floss. Er dachte daran, dass es der einzige Fluss war, der durch Baryn floss.
    »Wenn sie in der Nähe von Auror einen Staudamm bauen würden, hätte ich es, glaube ich, erfahren«, sagte er.
    »Vielleicht«, sagte Vitas.
    »Früher«, sagte Lev zögernd, »hätte ich es ganz bestimmt erfahren, weil meine Frau in der Buchhaltung des Baryner Baudezernats gearbeitet hat. Aber meine Frau ist gestorben.«
    »Deine Frau ist gestorben?«
    »Ja. Da siehst du, Vitas, du bist nicht der Einzige, der traurig ist.«
    Nachdem Vitas gegangen war, blieb Lev in der Küche sitzen und brach eine weitere von GKs Kardinalregeln, indem er eine Zigarette rauchte. Bilder von Auror stiegen in ihm auf. Er sah die Stofffetzen in den Bäumen über dem Grab seines Vaterszittern. Er sah Inas Ziegen, die sich in ihrem Gehege aneinanderdrängten. Und er hörte die Stille seines Dorfs, jene süße nächtliche Stille, die nie von den Geistern gestört wurde, an die Stefan immer seine eigenartigen Gebete gerichtet hatte, sondern nur vom Schrei der Eulen.
    Er holte sein Telefon heraus und wählte Rudis Nummer. Lora meldete sich mit verschlafener Stimme. »Lev, Rudi ist nicht da«, sagte sie. »Fährt irgendwelche Leute von Baryn nach Hause.«
    »Wie geht’s dem Tschewi?«, fragte Lev.
    »Ruckelt immer noch. Aber er hat endlich die Treibriemen bekommen. Von irgendwo an der Ruhr. Montag will er sie einbauen.«
    »Gut«, sagte Lev.
    Einen Moment lang herrschte Schweigen, und Lev konnte Lora gähnen hören.
    »Entschuldige, dass ich so spät anrufe«, sagte er, »aber ich habe heute Abend das Gerücht von einem Staudamm gehört, der angeblich oberhalb von Baryn gebaut werden soll. ›Oberhalb von Baryn‹ heißt dann wohl: an unserem Teil des Flusses.«
    »Ein Staudamm?«, sagte Lora. »Wir haben noch nie was von einem Staudamm gehört.«
    »Es gibt einen Jungen, der hier in der Küche arbeitet und aus einem Dorf bei Jor kommt. Der hat das erzählt.«
    »Vielleicht bauen sie so einen Damm oberhalb von Jor?«
    »Nein. Er sagte Baryn. Und das müssen wir herausfinden, Lora. Kannst du mit Prokurator Rivas sprechen?«
    »Du weißt, dass ich den nicht leiden kann, Lev.«
    »Ich weiß. Aber die Leute in Rivas’ Büro

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