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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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wissen vielleicht was.«
    »Vielleicht. Aber das heißt noch lange nicht, dass sie es uns auch sagen.«
    »Angeblich leben wir aber doch jetzt im Zeitalter der neuen Offenheit.«
    »Sicher. Aber an alten Gewohnheiten lässt sich schlecht rütteln. Woher wissen wir, dass wir glauben können, was sie uns sagen?«
    »Na ja. Ein Staudamm oberhalb von Baryn würde Auror auslöschen. Und das müssten sie dir schon erzählen.«
    »Auror auslöschen? Unsere Häuser auslöschen?«
    »Ja. Wenn man einen Fluss staut, fließt er rückwärts. Auror stünde unter Wasser.«
    »Das können sie doch nicht tun, Lev ...«
    Lev steckte sich noch eine Zigarette an. Er starrte auf das Chaos, das Vitas hinterlassen hatte. Er sagte müde: »Wahrscheinlich nicht. Vielleicht wollte der Junge mir nur Angst machen. Ich weiß es nicht, Lora. Aber finde es heraus, okay? Wenn du Rivas nicht begegnen möchtest, lass Rudi hingehen.«
    »O Gott, jetzt habe ich Angst bekommen, Lev. Stell dir vor, das wäre wahr. Stell dir vor, wir verlören unser Dorf.«
    »Wahrscheinlich müssten wir eine Entschädigung erhalten.«
    »Entschädigung? Was würde das denn ändern? Wo sollen wir denn dann hin?«
    »Ich weiß es nicht, Lora. Das müssten wir herausbekommen. Sag Rudi, dass ich in ein paar Tagen noch einmal anrufe. Versuch, einen Termin bei Rivas zu kriegen.«
    »Was soll denn Ina dann machen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Sie würde es nicht überleben.«
    »Sie müsste es überleben.«
    »All die alten Menschen. Stell dir das vor. Wenn sie Auror verlassen müssten, wäre das das Ende ihrer Welt.«
    All das beschäftigte ihn, während er die Arbeit zu Ende brachte, die Vitas liegengelassen hatte: wie seine Mutter ihre Schmuckwerkstatt auflöste, ihr Hab und Gut verpackte, den Flickenteppich in ihrem Zimmer aufrollte ... wie sie Stefans Grab ein letztes Mal besuchte, einen schütteren Strauß Margeritenpflückte und ihn auf den grob behauenen Stein stellte, unter dem er lag ... wie sie die Ecken des leeren Hauses fegte ... ihre Ziegen schlachtete ...
    Mach bitte, dass das nicht passiert.
    Lev sah seine Mutter vor sich, ihr Gesicht dicht vor der kerzenbeschienenen Ikone, dicht vor dem Foto von Marina, wie sie mit dem Gott-der-geschlafen-hatte flüsterte, dem Gott, der ihr ganzes Leben lang in ihrem Land geschwiegen hatte, dessen Bild ihre Eltern dennoch in einem dunklen Schrank sicher aufbewahrt hatten, da sie unerschütterlich glaubten, er werde eines Tages zurückkehren dürfen, und ihrem Kind unerschütterlich erzählten, es solle heimlich beten, dieser Gott-der-in-Schlaf-gesunken-war sehe trotzdem alles auf der Erde.
    Wie kann ein Gott, der in einem dunklen Schrank schläft, alles auf der Erde sehen?
    Darüber hatte seine Mutter viel gegrübelt. Sie hatte Lev erzählt, als Kind habe sie manchmal die Ikone ausgewickelt und vorne so aufs Regal gestellt, dass ein Sonnenstrahl auf ihre goldene Oberfläche fiel, und dann habe sie auf die pummeligen Beine des Jesuskindleins gestarrt und gedacht: Eines Tages sind diese dicken Beinchen ausgewachsen und was hier im Schrank schläft, wird ein Mann sein. Und die Vorstellung eines schlafenden Mannes im Schrank elektrisierte sie. Oft versuchte sie festzustellen, ob sie seinen Atem hören konnte. Aber er gab niemals einen einzigen Laut von sich.
    »Und doch«, sagte sie einmal, »hatte ich in gewisser Weise recht. Gott schlief, aber dann erwachte er zu Beginn der neunziger Jahre. Er übernahm wieder die Macht. Und er war inzwischen erwachsen. Er wusste, wie er die Menschen wieder für sich gewinnen konnte.«
    Über den Auror-Neuigkeiten war sein Verlangen verschwunden.
    Mit schmerzendem Körper fuhr Lev niedergeschlagen heimnach Tufnell Park. Doch als der Nachtbus gerade die Kentish Town Road entlangschaukelte, klingelte sein Telefon und es war Sophie.
    »Lev ...«, sagte sie, und selbst in dieser einen Silbe konnte Lev den leichten, unwiderstehlichen Knacks in ihrer Stimme hören.
    »Sophie ...«
    »Soll ich dir verraten, wo ich bin?«, sagte sie. »Ich liege im Bett, und ich habe es frisch bezogen, und zwar mit Satinbettzeug, und das macht mich vollkommen verrückt. Und deshalb habe ich gehofft, du bist noch auf dem Nachhauseweg ...«
    Lev lächelte. Er drückte das Telefon ans Ohr. »Sophie«, sagte er, »ich möchte hören, dass du etwas zu mir sagst. Dann werde ich kommen.«
    »Dann kommst du? Gut. Was sagen?«
    »Ich möchte, dass du sagst, du liebst mich.«
    Er hörte sie lachen. Dann sagte sie: »Du bist so

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