Der Weltensammler: Roman (German Edition)
eigentlich nie klar, was zu sein er vorgab. Er hüllte sich in Unklarheit. Er sprach in so vielen Zungen. Aber mir konnte er nichts vormachen. Ich wußte natürlich, daß er ein Abgefallener war. Nein, nicht wie Sie sagen, das kann ich nicht glauben. Er hat etwas ganz anderes verheimlicht. Die ganze Zeit tat er so, als würde er der Shafi-Schule angehören. Aber das stimmte nicht. Sehen Sie, ich habe begriffen, daß er Taqiyya praktiziert, so wie seine Tradition es ihn gelehrt hat. Sie wissen, die Shia halten es für ihr gutes Recht, ihren wahren Glauben wenn nötig, wenn überlebensnotwendig, zu verbergen. Das ist der Boden der Wahrheit. Er war ein Shia. Mit Sicherheit war er auch ein Sufi. Bei allem anderen bin ich mir nicht so sicher.
SHARIF: Ein Sufi, da haben wir es. Wir wissen doch, daß die Sufis den Wein besingen.
GOUVERNEUR: Als Bildnis nur, als Bildnis. Das bedeutet doch nicht, daß sie den Sünden zusprechen.
KADI: Wieso wählen sie ein falsches Bildnis aus? Lassen wir das – was spielt es schon für eine Rolle, daß er getrunken hat, wenn er Shia war. Verdammnis kann nicht verdoppelt werden.
SHARIF: Wenn er Shia war, und diese Tatsache nicht nur seinen Mitreisenden, sondern auch seinen Lesern verheimlicht, dann hat er die Hadj immerhin als Moslem begangen und nicht, wie wir befürchtet haben, als Frevler.
GOUVERNEUR: Das soll er selber mit Gott ausmachen. Die wichtigere Frage bleibt: Hat er spioniert? Angesichts dieser Tatsachen, wer weiß, vielleicht stimmt Ihre Vermutung, vielleicht hat er auch seinen Vorgesetzten falsche Angaben geliefert?
KADI: Halten wir nun den Shia zugute, daß sie eingefleischte Lügner sind?
GOUVERNEUR: Das könnte uns zum Vorteil gereicht haben.
SHARIF: Auch sie lieben die heiligen Stätten, zweifellos.
KADI: Sie lieben die heiligen Stätten so sehr, sie wollen sie unter ihre Kontrolle bringen.
GOUVERNEUR: Wir müssen tiefer graben. Dieser Richard Burton ist ein Meister der Geheimhaltung, und das beunruhigt mich. Solche Menschen verbergen ihre Anliegen vor ihren Allernächsten. Vor sich selbst sogar. War er doch ein Derwisch? Einer von jenen, die einem verwirrten Weg folgen. War er diesem Weg gar treu? An einer Stelle seines Berichts schreibt er, ich habe es mir ungefähr gemerkt: Und nun muß ich schweigen, denn der Pfad des Derwisch darf nicht von profanen Augen betreten werden. Sagt er die Wahrheit, an dieser Stelle? Oder hat er diesen Satz nur hingeschrieben, um sich interessant zu machen? Die Menschen gieren nach dem Wissen, das ihnen verborgen bleibt. Überlegen Sie: Immerhin verweigert er offen seinen Landsleuten Auskunft, und wie wir wissen, sind die Briten so süchtig nach Aufklärung wie die Jemeniten nach Khat. Er führt seine eigenen Landsleute an der Nase herum. Also betreibt er doch Taqiyya!
KADI: Er scheint uns alle an der Nase herumzuführen.
SHARIF: Gott weiß es besser.
Am nächsten Tag kann er seiner eigenen Erinnerung nicht glauben. Wie hat er so etwas tun können? Welcher Teufel hat ihn geritten? Er ist ein komplexes Pack: Mensch und Dämon, er trägt einen kolossalen Saboteur in sich, einen Hohen Gesandten des Teufels, der ihm immer wieder etwas zwischen die Beine wirft, kaum hat er drei erfolgreiche Schritte vollbracht. Keiner wird Mitte Dreißig, ohne schon des öfteren von sich selbst enttäuscht worden zu sein. Wieso das Mißtrauen der anderen abwarten, wenn er sich selber entlarven kann. Wie erbärmlich, und doch, fast ist er stolz darauf. Er hat sich zu sicher gefühlt, ohne Angst, und die Angst hätte ihmden Ratschlag erteilt, einen weiten Bogen um den Teufel zu machen. Der in ihm steckt. Das ist schwierig. Nun, am nächsten Morgen, in einem Zimmer, das aus allen Richtungen von einer tobenden Stadt belagert schien, spürt er die Angst nahen wie den Schmerz einer dauerhaften Verletzung. Angst vor seinem eigenen unkontrollierten, unabsehbaren Verhalten. In Kairo mag manches durchgehen, aber in Mekka würde er mit einem Schlag alles verlieren. Mache es dir bequem, Angst, du bist mir ein willkommener Begleiter. Hadji Wali hatte recht: Vernünftiger ist es, die Stadt so bald wie möglich zu verlassen. Der gefallene Arzt wird dem ganzen Viertel reichlich Unterhaltung bieten.
Es dauerte einen langen Tag in der Wüste, bis er der Stadt entkommen war und der beschämenden Erinnerung. Den Horizont, dem er viele Stunden entgegenritt, wähnte er voller Verheißung, seine Sinne von Luft und Bewegung angeregt, geschärft
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