Der Weltensammler: Roman (German Edition)
Tag. Wer sich bewegt, schleppt sich durch Stunden, die sich träge ausbreiten über den abgeworfenen Umhang von Pflichten. Das Sterben verstärkt sich – inzwischen endet keines der gemeinschaftlichen Gebete ohne ein Salah Jennazi, das für die jüngst Verstorbenen gesprochen wird. Sheikh Abdullah nimmt sich vor, auf dem Rücken seines Esels die letzte Etappe nach Mekka zurückzulegen, wo das Gebot der Stunde, Krankheit und Sterblichkeit, selbst die Große Moschee mit Leichen gefüllt hat und mit Kranken, die zu den Kolonnaden getragen werden, um vom Anblick der Kaaba geheilt zu werden oder beseelt im heiligen Raum zu sterben. SheikhAbdullah sieht abgezehrte Hadjis, die ihre kraftlosen Körper in die Schatten unter den Kolonnaden schleppen. Wenn sie ihre Hand nicht mehr ausstrecken können, um eine Gabe zu erbitten, stellt jemand, der sich ihrer erbarmt, nahe der Matte, auf der sie liegen, eine kleine Schüssel hin, in der sich die seltenen Almosen sammeln. Wenn diese Elenden fühlen, daß der letzte Augenblick naht, bedecken sie sich selbst mit ihren zerlumpten Kleidern, und es dauert manchmal lange, so erzählt ihm Mohammed, bevor jemand entdeckt, daß sie gestorben sind. Am nächsten Tag, nach einem weiteren Tawaf, stolpern sie nahe der Kaaba über eine gekrümmte Gestalt, offensichtlich ein Sterbender, der in die Arme des Propheten und der Engel gekrochen ist. Sheikh Abdullah bleibt stehen und beugt sich zu ihm hinab. Mit einem Krächzen und einer schwachen, aber verständlichen Geste bittet der Mann darum, mit etwas Zamzam-Wasser besprengt zu werden. Während sie diesem Wunsch nachkommen, stirbt er; sie schließen ihm die Augen, und Mohammed entfernt sich, um jemanden zu benachrichtigen, denn kurz darauf waschen einige Sklaven sorgfältig die Stelle, wo der Tote gelegen hat, und kaum eine halbe Stunde später werden sie den Unbekannten begraben – so mühsam die Ankunft des Menschen auf Erden vonstatten geht, so rasch entledigt sich die Welt seiner, wenn er nur noch Materie ist. Der Gedanke bekümmert Sheikh Abdullah, aber er spürt, daß dies der Ort ist, an dem er sich mit ihm abfinden könnte. Er sitzt aufrecht, mit Blick auf die Kaaba, und er stellt sich vor, daß er der Mann ist, der sterbend daliegt. Spürt er noch die Tropfen Wasser, die auf sein Gesicht fallen? Von was wird er Abschied nehmen müssen?
Im Monat von Dhu’l-Hijjah des Jahres 1273
Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen
GOUVERNEUR: Verzeihen Sie mir, daß ich Sie in diesen Tagen zu einem letzten Treffen eingeladen habe, aber ich werde sofort nach Id al-Aza nach Istanbul abreisen, und ich habe den abschließenden Bericht mit mir zu führen.
SHARIF: Fast ein Jahr ist vergangen, seitdem wir begonnen haben, uns mit dieser Angelegenheit zu befassen, die bedeutsam ist, gewiß, aber wir haben getan, was möglich war, und doch, wenn ich diesen Vergleich aufnehmen darf, auch wir haben vergeblich nach dem Neumond der Wahrheit geschielt.
GOUVERNEUR: Wir haben noch einen letzten Zeugen zu hören, vielleicht hilft er uns, den Knoten zu zerschlagen. Es ist Salih Shakkar, wir haben ihn endlich gefunden, er ist mit der großen Karawane nach Mekka zurückgekehrt. Ein Dutzend meiner Männer war damit beschäftigt, nach ihm Ausschau zu halten. Ich habe ihn schon befragt, ein wenig, und noch nichts Neues erfahren, aber vielleicht kommt bei einem gemeinsamen Gespräch etwas zum Vorschein.
KADI: Selbst wenn der Himmel völlig eingeschwärzt wäre, wir würden weiter nach dem Neumond suchen.
SHARIF: Ein letztes Mal, wie der Gouverneur sagt, ein letztes Mal. Wissen Sie, ich werde unsere Treffen vermissen, sie waren eine Abwechslung, so lehrreich und unterhaltsam.
KADI: Unterhaltsam?
SHARIF: Auf eine krumme Weise.
GOUVERNEUR: Ich werde den Mann rufen lassen.
GOUVERNEUR: Denken Sie nach. Er muß doch irgendwelche Meinungen geäußert haben. Jeder Mensch urteilt von Zeit zu Zeit.
SALIH: Er hatte einen geschärften Blick für das Unrecht der Welt, er äußerte erstaunlich viel Mitgefühl mit den ärmeren Pilgern. Als sei er mit ihnen verwandt.
GOUVERNEUR: Ja …
SALIH: Er konnte sich aufregen, sich in Rage reden. Einmal schimpfte er sogar auf den Kalifen.
GOUVERNEUR: Ja?
SALIH: Er schimpfte über den Reichtum der Oberen, auf die Freigebigkeit gegenüber den Führern der großen Karawanen. Auf die Korruption, die er allenthalben am Werk sah. Die armen Pilger hingegen, das wiederholte er oft, sie würden gänzlich
Weitere Kostenlose Bücher