Der Weltensammler: Roman (German Edition)
sich in Sehwan festgesetzt, hat sich unter den Huren herumgetrieben. Soll Wunder gewirkt haben.
– Lehnen Sie Wunder grundsätzlich ab?
– Nein. Ich weiß, manche Sadhus beherrschen Kräfte, die wir nicht verstehen.
– Manche Derwische auch.
– Nicht diese Derwische. Ich bin dort nur Bettlern begegnet. Stinkigen Bettlern. Neun von zehn an diesem Ort waren Bettler.
– Wie bei unseren Tempeln.
– Unsere Sadhus erwarten geduldig die Spende, die wir ihnen geben. Bei den Beschnittenen, sie zerren an dir, sie lassen nicht von dir ab. Sie saßen überall, sie haben geraucht, ich weiß, wie die Sadhus, kein Unterschied, jeder hatte eine Chillum in der Hand. Sie haben gekrächzt, und was nicht auszuhalten war, das waren diese Rufe, die immer wieder ertönten. Mast qalandar , dieser Ruf. Ich kann ihn nicht mehr hören.
– Das verstehe ich. Das verstehe ich. Mir geht es ähnlich.
– Ja?
– Durchaus. Wir wohnen neben einem Tempel. Sita-Ram Sita-Ram Sita-RamRamRam , wenn ich das schon aus der Ferne höre, wird mir übel.
– Ich durchschaue dich. Deinen Trick. Du übertreibst die Gemeinsamkeiten und verschleierst die Unterschiede. Und damit soll alles gut sein?
– Es ist kein Trick. Ich blicke hinter den Trug, dem Sie aufgesessen sind.
– Du durchschaust alles? Wieso sitzen wir dann zusammen. Ich gehe jetzt.
– Beruhigen Sie sich. Es ist doch alles provisorisch. Wir streiten uns, als wäre irgend etwas endgültig klar. Kehren wir zu Ihrer Geschichte zurück. Ich werde nur schreiben. Aber lassen Sie ab von den Beschnittenen. So ein primitiver Haß, der ist Ihrer nicht würdig.
– Wissen Sie was? Sie haben nicht völlig unrecht. Ich muß Ihnen sagen, die Derwische, sie trugen irgendwelche Gewichte am Körper, um dem Leben mehr Mühe zu bereiten. Malang hießen sie, Gefangene Gottes, die schwere Ketten am Körper tragen. Das hat mich wahrlich an unsere Sadhus erinnert. Sie sehen, die Beschnittenen haben den Unfug von uns übernommen.
– Und Burton Saheb. Wie wurde er empfangen?
– Wie ein Freund. Ich gebe es ungern zu. Die Beschnittenen waren zuvorkommend. Sie haben ihn herumgeführt. Sie waren stolz auf sein Interesse. Nur an das Grab durfte er nicht heran. Aber das hat ihn nicht gestört. Er zwinkerte mir zu, als sie ihm das mit Bedauern sagten. Und nachher, auf dem Ritt zurück ins Lager, da sagte er, Mirza Abdullah werde dem Schrein einen Besuch abstatten müssen. Man sieht mehr, sagte er, wenn man zu zweit ist.
54.
ZUM RUHME UND ZUR EHRE
Der Muezzin hustete eine Kofta aus, die über Nacht in seinem Hals steckengeblieben war. Dann nahm er sich der ersten Silbe an und dehnte sie, genauso die zweite, als würde er das Band einer Schleuder ziehen, um den Schlaf der Menschen zu treffen. Burton hörte Füße klatschen auf dem Weg ins Bad. Er hatte schlecht geschlafen, lebhaft geträumt. Er hatte einen Mann von hinten gesehen, in einen Umhang eingewickelt, er stand an einem Grab in einer kargen Landschaft. Ein Hund, dem ein Bein fehlte, hinkte vorbei. Ein Name war in den Grabstein gemeißelt, Rich Barton , in krakeliger Schrift. Andere Menschen traten an das Grab, blickten still undohne Regung auf den Grabstein. Ein jeder von ihnen fragte, wer ist dieser Mann, der hier begraben liegt? Keiner wußte eine Antwort darauf. Das ist traurig, sagten die Menschen. Und sie legten ein Tuch auf das Grab, bevor sie sich umdrehten. Weit weg vom Staub seiner Vorfahren, sagte einer von ihnen im Vorbeigehen. Nur der Mann, der in dem Überwurf eingewickelt war, verharrte an dem Grab. Er hob nicht einmal eine Hand, um dem Verstorbenen Tribut zu zollen, an den sich offenbar niemand mehr erinnerte. Wozu stand der Name auf dem Grabstein? Einer der jungen Männer des Hauses rief ihm zu, er könne sein Wazu vornehmen. Beten ist besser als schlafen, redete der Muezzin auf das Viertel ein. Beten ist besser als schlafen. Das erste Gebet des Tages war ein kurzes. Die spirituelle Form des kalten Wassers, das er sich ins Gesicht warf. Nicht nur, um aufzuwachen. Auch um aufrecht zu stehen, sich aufrichtig zu verneigen, die richtige Haltung anzunehmen für den Tag. Danach trank er einen Tee mit seinem Gastgeber. Mirza Aziz. Sie hatten sich angefreundet. Als Mirza Abdullah fuhr er seit Wochen die Ernte seines Charismas und seiner Geduld ein. Er wurde herumgereicht, von einem Haus zum nächsten. Ein Mann, der es verdiente, geehrt zu werden. Hat der Prophet, möge Gott ihm Frieden und Segen geben, nicht geraten: Sei in
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