Der Wert des Blutes: Kriminalroman (German Edition)
die Schränke an; es waren sechs und fünf davon enthielten Totenakten. Jeder Schrank hatte sechs Schubladen, was bedeutete, dass es dreißig Schubladen voller Totenakten gab. R–S war sehr vollgepackt, und ich hatte Mühe, die Akte Sinopoli herauszuziehen. Es war die Papierspur eines Lebens, des Lebens der Lisa Sinopoli: ihre Geburtsurkunde, ihre Prüfungsergebnisse, Kontoauszüge, Gehaltsschecks aus ihrer Hollywoodzeit, Quittungen, Besitzurkunden für Immobilien, eine Heiratsurkunde, die bestätigte, dass sie mit zweiundzwanzig die Ehe mit Greig Turner geschlossen hatte, sowie zwei Sterbeurkunden. Eine, vermutlich die echte, belegte, dass sie im Alter von sechs Jahren an Tuberkulose gestorben war. Die andere, die sie benötigt hatte, um ihre Identität auszulöschen, als sie wegzog, war im Jahr neunzehn-hundertvierundfünfzig ausgestellt worden.
Wenn ich das richtig verstand, waren die Totenakten Identitäten, die sie schon benutzt hatte. Der andere Schrank enthielt Akten für künftigen Bedarf.
Ein Teil von mir hegte die vage Hoffnung, sie könnte eventuell nur in einen komplizierten Kreditkartenbetrug verwickelt sein – oder in irgendeinen Wald-und-Wiesen-Schwindel. Damit wäre ich klargekommen – davon wäre ich nicht mitten in der Nacht schweißgebadet aufgewacht. Aber dann fiel mir das signierte Exemplar von
Entführt
wieder ein, und mir dämmerte, dass es dafür keine plausible Erklärung gab. Wie weit wohl die Totenakten zurückreichten? Ich blätterte in denen der Schublade R–S und kam bis achtzehnhundertsiebenundvierzig, zu einer Frau namens Anne-Cecile Rullier, aber ich stieg danicht recht durch, weil die Unterlagen auf Französisch waren. Offenbar enthielt eine Akte um so mehr Dokumente, je neuer sie war, was bewies, dass es zunehmend komplizierter wurde, eine neue Identität aufrechtzuerhalten. Das erklärte vielleicht auch die Computer in diesem Zimmer.
Ich ging zu einem der Rechner, einem Sony-Laptop mit allen Schikanen, und schaffte es, ihn hochzufahren, kam aber nicht in die passwortgeschützten Dateien.
Ich verließ das klimatisierte Zimmer. Auf Zehenspitzen schlich ich mich durch den Flur zur nächsten Tür und ging hinein. Hier standen ägyptische Kunstgegenstände, und sie waren alt – verdammt alt: Statuen, viel Goldschmuck, eine goldene Katze, die auf den Hinterbeinen stand, als ob sie spielte, und einige Steine mit Hieroglyphen. Ob das neuere Anschaffungen waren? Ich hoffte es, denn ich malte mir ungern aus, was die Alternative war. Daran mochte ich nicht einmal denken.
Ich stieß die nächste Tür im Flur auf und leuchtete mit der Taschenlampe die gegenüberliegende Wand ab. Terrys Gesicht sah mich an, mit blitzenden Augen und ganz blasser Haut. Ich brauchte etwa eine Sekunde, in der mein Herzschlag aussetzte, bevor ich merkte, dass es ein lebensgroßes Porträt an der Wand war. Das Gemälde wirkte fast wie ein Foto. Sie saß auf einem Stuhl mit gerader Lehne neben einem viktorianischen Kamin, mit ernster Miene und mit zurückgebundenem Haar, aber es war offensichtlich Terry. Ich ließ den Lichtstrahl über die Wand gleiten, und er beleuchtete ein zweites Portrait, das viel älter und nicht ganz so gut war. Das Zimmer war voller Porträts, manche offensichtlich sehr alt – der Firnis wurde schon braun und die Farben verblassten –, während andere frisch undneu erschienen, als wären sie erst gestern gemalt worden. Auf allen war Terry zu sehen, mit einer Ausnahme, und das war ein Picasso, der sie vielleicht darstellte oder auch nicht. Schwer zu sagen, denn ein Auge saß in der Ecke und die Nase in der Mitte, aber ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass sie es war, denn das Auge war kohlschwarz. Picasso hat sie gemalt, ist es denn zu fassen? Robert Louis Stevenson hat ihr eins von seinen Büchern geschenkt und Picasso hat sie gemalt. Im Raum befand sich zudem eine einzelne Skulptur, eine lebensgroße weiße Marmorstatue.
Als ich ihre Stimme hörte, fuhr ich zusammen und ließ die Taschenlampe fallen. »Ich weiß, das ist eitel, Jamie, aber es macht mir so viel Freude, sie anzusehen«, sagte sie. Ich wirbelte herum, erblickte sie aber nirgends, und der Gedanke schoss mir durch den Kopf, dass sie in absoluter Dunkelheit sehen konnte.
»Terry, bist du das?« Natürlich war sie es, und ich weiß, dass es eine dumme Frage war, aber ich konnte überhaupt nichts sehen, und immerhin war es möglich, dass sie da mit einer Axt in der Hand stand. Ich ging in die Knie, tastete nach der
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