Der Widersacher
beiseite. Er war wie versteinert. Er hatte diese Frau erst vor zwei Tagen kennengelernt, und dennoch konnte er nicht leugnen, dass er sich stark von ihr angezogen fühlte und eine große Nähe zwischen ihnen spürte. Das wollte er nicht verspielen, aber er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Das Leben ist zu kurz, Harry«, fuhr sie fort. »Ich kann es mir nicht leisten, noch groß Zeit zu vergeuden, und ich will mich auf keinen Fall auf jemand einlassen, der kein Verständnis für das hat, was ich tue, und kein natürliches Mitgefühl für Menschen, die Opfer sind.«
Endlich fand er die Sprache wieder.
»Ich empfinde durchaus Mitgefühl. Mein Job ist es, mich für Opfer wie Lily Price einzusetzen. Aber was ist mit Pells Opfern? Genauso, wie er selbst beschädigt worden ist, hat er andere Menschen beschädigt. Soll ich ihm da etwa auf die Schulter klopfen und sagen, alles nur halb so wild, es wird schon wieder gut? Es ist nämlich nicht gut und wird auch nie wieder gut werden. Und das weiß er ganz genau.«
Er breitete die Handflächen aus, als wollte er sagen: So sehe ich die Sache nun mal.
»Glaubst du, es gibt so etwas wie das Böse, Harry?«
»Natürlich. Ich wäre arbeitslos, wenn es das Böse nicht gäbe.«
»Und woher kommt es?«
»Was heißt, woher kommt es?«
»Na, in deinem Job hast du doch fast täglich mit dem Bösen zu tun. Woher kommt es? Wie werden Menschen böse? Liegt es einfach in der Luft? Fängt man es sich, wie man sich eine Erkältung holt?«
»Quatsch. So einfach ist es nun wirklich nicht. Das weißt du ganz genau.«
»Deswegen brauchst du doch nicht gleich sauer zu werden. Ich versuche nur, herauszufinden, wie du tickst, damit ich eine Entscheidung treffen kann. Ich mag dich, Harry. Sehr sogar. Alles, was ich bisher von dir mitbekommen habe, gefällt mir. Bis auf das, was du da heute im Auto getan hast. Ich will mich nicht auf dich einlassen, bloß um hinterher herauszufinden, dass ich mich in dir getäuscht habe.«
»Ist das hier jetzt ein Einstellungsgespräch oder was?«
»Nein. Ich versuche bloß, dich kennenzulernen.«
»Das schmeckt mir ein bisschen zu sehr nach diesen Speed-Datings, die gerade Mode sind. Wo man schon alles über den anderen wissen will, bevor überhaupt irgendwas passiert. Dahinter steckt doch noch was anderes. Etwas, was du mir nicht sagen willst.«
Sie antwortete nicht sofort, und das verriet Bosch, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte.
»Hannah, was ist?«
Sie ging nicht auf seine Frage ein, sondern beharrte auf ihrer.
»Harry, woher kommt das Böse?«
Bosch lachte und schüttelte den Kopf.
»Das ist eigentlich nichts, worüber man redet, wenn man sich gegenseitig kennenzulernen versucht. Warum ist es für dich so wichtig, wie ich darüber denke?«
»Weil es mir eben wichtig ist. Wie lautet deine Antwort?«
Er konnte an ihren Augen sehen, wie ernst es ihr damit war. Es war ihr wichtig.
»Alles, was ich dazu sagen kann, ist, dass niemand weiß, woher es kommt, ja? Es ist einfach da, und es hat entsetzliche Folgen. Und mein Job ist, es zu finden und aus der Welt zu verbannen. Um das zu tun, muss ich nicht wissen, woher es kommt.«
Sie dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete.
»Nicht schlecht, Harry, aber nicht gut genug. Du machst das doch jetzt schon ziemlich lange. Da musst du dich doch von Zeit zu Zeit fragen, woher diese Finsternis in manchen Menschen kommt. Wie wird ein Herz so schwarz?«
»Damit wären wir wieder mal bei der alten Debatte ›Veranlagung oder Erziehung‹. Weil ich …«
»Genau. Und auf welcher Seite stehst du?«
Bosch wollte grinsen, aber er spürte instinktiv, dass das nicht gut ankäme.
»Ich stehe auf gar keiner Seite, weil es müßig …«
»Nein, du musst aber Stellung beziehen. Darum kommst du jetzt nicht herum. Ich möchte es wissen.«
Sie hatte sich über den Tisch gebeugt und mit einem nachdrücklichen Flüstern auf ihn eingeredet. Als der Kellner in diesem Moment an ihren Tisch kam und die Teller abräumte, lehnte sie sich zurück. Bosch war froh über die Unterbrechung, weil sie ihm Zeit zum Nachdenken verschaffte. Sie bestellten Kaffee, aber kein Dessert. Als der Kellner weg war, konnte Bosch nicht mehr kneifen.
»Also schön, ich glaube, dass das Böse auf jeden Fall eine Folge von Erziehung sein kann. Bei Clayton Pell war das sicher so. Aber für jeden Pell, der seine Aggressionen abreagiert und jemand anderem Schaden zufügt, gibt es auch Leute, die genauso traumatische
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