Der Widersacher
Kindheitserlebnisse hatten und trotzdem irgendwie klarkommen und niemandem etwas antun. Folglich muss da noch etwas anderes eine Rolle spielen. Eine zweite Unbekannte in der Gleichung. Werden Menschen mit etwas geboren, das in ihrem Innern schlummert und nur unter bestimmten Voraussetzungen an die Oberfläche kommt? Ich weiß es nicht, Hannah. Beim besten Willen nicht. Und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand das weiß. Jedenfalls nicht sicher. Wir haben nur alle möglichen Theorien, von denen aber letztlich keine etwas zur Sache tut, weil keine den Schaden verhindern kann.«
»Du findest also, meine Arbeit ist sinnlos?«
»Nein, aber deine Arbeit kommt – genau wie meine – erst zum Tragen, wenn der Schaden bereits angerichtet ist. Sicher, dein Engagement wird hoffentlich möglichst viele von diesen Leuten davon abhalten, loszuziehen und wieder so etwas zu tun. Davon bin ich durchaus überzeugt, wie ich dir gestern Abend auch gesagt habe. Aber wie willst du damit rechtzeitig jemand erkennen und aufhalten, der nie auffällig geworden ist oder gegen ein Gesetz verstoßen oder sonst etwas getan hat, was die Gesellschaft davor warnt, was da im Anzug ist? Wieso reden wir eigentlich über das alles, Hannah? Rück endlich raus damit. Was willst du mir nicht sagen?«
Der Kellner kam mit dem Kaffee. Hannah bat ihn um die Rechnung. Bosch fasste das als ein schlechtes Zeichen auf. Sie wollte Abstand von ihm bekommen. Sie wollte gehen.
»War’s das dann? Wir zahlen, und du verdrückst dich, ohne meine Frage beantwortet zu haben?«
»Nein, Harry, das war’s nicht. Ich habe nach der Rechnung verlangt, weil ich möchte, dass du mich jetzt zu dir nach Hause mitnimmst. Aber da ist noch etwas, was du vorher über mich wissen solltest.«
»Dann sag’s mir.«
»Ich habe einen Sohn, Harry.«
»Ich weiß. Du hast gesagt, er lebt oben in der Bay Area.«
»Ja, ich besuche ihn dort im Gefängnis. Er ist in San Quentin.«
Bosch hätte nicht behaupten können, dass er so etwas nicht schon geahnt hatte. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es ihr Sohn wäre. Eher ein Ex-Mann oder -Partner. Aber nicht ihr Sohn.
»Das tut mir leid, Hannah.«
Mehr fiel ihm nicht ein. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sein Mitgefühl abwehren.
»Er hat etwas Schreckliches getan«, sagte sie. »Etwas Böses. Und bis heute kann ich nicht verstehen, woher es kam oder warum.«
Die Weinflasche unter den Arm geklemmt, schloss Bosch die Haustür auf und hielt sie ihr auf. Er gab sich betont gelassen, was er aber nicht war. Sie hatten noch fast eine Stunde über ihren Sohn gesprochen. Die meiste Zeit hatte Bosch nur zugehört. Aber am Ende hatte er nichts anderes tun können, als ihr noch einmal sein Mitgefühl auszusprechen. Sind Eltern für die Sünden ihrer Kinder verantwortlich? Häufig ja, aber nicht immer. Sie war die Therapeutin. Sie wusste das besser als er.
Er drückte auf den Lichtschalter neben der Tür.
»Sollen wir hinten auf der Terrasse noch ein Glas Wein trinken?«, fragte er.
»Ja, gern«, sagte sie.
Er führte sie durchs Wohnzimmer zu der Schiebetür, die auf die Terrasse führte.
»Das Haus ist richtig schön, Harry. Wie lang wohnst du hier schon?«
»Ich glaube, fast fünfundzwanzig Jahre. Es kommt mir nur nicht so lange vor. Ich habe es einmal neu gebaut. Nach dem Erdbeben von ’ 94 .«
Sie wurden vom Rauschen des Verkehrs begrüßt, der unten auf dem Freeway über den Cahuenga-Pass floss. Auf der Terrasse war der Wind empfindlich kühl. Hannah stellte sich ans Geländer und bewunderte die Aussicht.
»Wow.«
Die Augen zum Himmel gerichtet, drehte sie sich einmal um ihre Achse.
»Wo ist der Mond?«
Bosch deutete in Richtung Mount Fleming.
»Er muss hinter dem Berg sein.«
»Hoffentlich kommt er noch raus.«
Bosch hielt die Flasche am Hals hoch. Er hatte sie aus dem Restaurant mitgenommen, weil er wusste, dass er zu Hause nichts zu trinken hatte. Seit Madeline bei ihm lebte, hatte er aufgehört, zu Hause Alkohol zu trinken.
»Ich mache sie mal auf und lege ein bisschen Musik auf. Ich bin gleich wieder zurück.«
Im Wohnzimmer machte er die Anlage an. Er war aber nicht sicher, was er eingelegt hatte. Doch dann hörte er Frank Morgans Saxophon, und er wusste: Das passt! Er ging rasch den Flur hinunter, räumte kurz im Bad und im Schlafzimmer auf, nahm frische Laken aus dem Schrank und bezog das Bett neu. Dann ging er in die Küche, um den Wein aufzumachen. Er ging mit der Flasche und zwei Gläsern
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