Der Widerschein
Wald hörte sie ihren Begleiter mit ihr sprechen, was sie mit freundlichem Nicken und kurzen Zustimmungen kommentierte. Seine Geschichte handelte von vielen Menschen, Orten und Situationen; er versuchte, ihr Bilder und Bewegungen zu beschreiben; aber seine Worte drangen kaum zu ihr durch. All diese Namen und Ortswechsel verwirrten Lucia Giannotti ohnehin so sehr, dass sie sich ganz ungeniert ihren eigenen Gedanken hingab.
Ihr neuer Talisman funktionierte nicht nur in geschlossenen Räumen, seine Macht kehrte sich außerhalb ihrer Hütte nicht ins Gegenteil um – nein, auch draußen gelang der Giannotti alles, es war unfassbar! Innerhalb weniger Stunden war ihr Korb mit Pilzen und Beeren gefüllt, sie entdeckte eine verlorene Münze und eine Waldwiese mit bunten Blumen, die Ferdinand für sie pflücken durfte.
Den Jungen zu sich zu nehmen schien mehr als sinnvoll gewesen zu sein.
Kurz vor ihrer Rückkehr zur Hütte jedoch fiel der Giannotti auf, dass Ferdinand schwieg. Nicht, dass sie die Stille störte. Aber soweit sie sich erinnerte, hatte er den ganzen Rückweg über geschwiegen. Er ging neben ihr her, schaute im Wald umher und warf ihr gelegentlich einen seltsamen Blick zu. Das Merkwürdige war nicht die Stille, nicht seine Anwesenheit oder sein Lächeln. Etwas an der gesamten Situation war anders, ja geradezu befremdlich.
Erst, als die Hütte in Sichtweite kam, fiel ihr auf, was es war: Sie, Lucia Giannotti und dieser Junge, Ferdinand – sie gingen Hand in Hand.
* * *
Das erbeutete Geld und die Bücher über sämtliche Kunden von Bros weckten in Gerlach einen nie gekannten Tatendrang, eine regelrechte Besessenheit. Ein unstillbarer Hunger erfüllte ihn, eine Sucht nach dieser echten, wahren Kunst: nach Ferdinands zauberhaften Bildern. Schon die bisherigen Werke, die Gerlach in seinen Besitz gebracht hatte, lösten ungeahnte Verzückungen und unvermittelte Gefühlsausbrüche in ihm aus.
Diese Motive, welche unglaubliche Präzision! Mehr davon, noch viel mehr – wenn möglich alle!
Im Nu heuerte Gerlach weitere Handlanger an, die ihm all jene Werke bringen sollten, die in Bros’ Rechnungsbüchern aufgeführt waren, koste es, was es wolle – Geld für solche drastischen Vorhaben war nun immerhin vorhanden.
Der Erfolg dieser Methode blieb natürlich nicht aus.
Gerlachs Haus füllte sich täglich mit Ferdinands wundervollen Bildern – vom Künstler selbst fehlte indes jede Spur: In den Niederlanden gab es laut seiner Gehilfen zu viele herrenlose Kinder, da helfe auch seine Beschreibung nur wenig.
Es war schlichtweg zum Verzweifeln.
Allein die erworbenen Bilder trösteten Gerlach über diesen Umstand hinweg.
Seine frühere Berufung, hochwertige Kunstwerke billig zu kaufen und gewinnbringend zu veräußern, diese langjährig gepflegte Leidenschaft hatte sich mit dem Erwerb von Ferdinands Zeichnungen grundlegend gewandelt. Das Geschäft blieb größtenteils geschlossen, Gerlach schloss sich in seiner Werkstatt ein, betrachtete – ausgerüstet mit Lupe, Federkiel und Notizbuch – akribisch jedes einzelne dieser Werke und flüsterte manchmal dabei: Gleich, er sei kurz davor, gleich wisse er, was sich dahinter verberge, gleich, gleich!
Nur sehr selten brach aus Gerlach die ehemalige Begeisterung für seinen eigentlichen Beruf hervor; dann hob er gedankenverloren seinen Blick, sah einen Moment lang aus dem Fenster. Ein Lächeln legte sich auf seine Gesichtszüge, und zuletzt zählte er fast lautlos die bedeutsamsten Kunsthandelszentren der Welt auf: Rom, Paris, Wien, London.
London!
Diese Rührseligkeit hielt zum Glück jedoch kaum eine Minute an.
Schon widmete er sich wieder dem Studium von Ferdinands Bilderwelten.
Der ehrenwerte Kunsthändler Gerlach, so hieß es in der Nachbarschaft, war anscheinend von der gleichen Besessenheit befallen worden wie damals sein Nachbar Reitinger.
Man hoffte sehr, dass dieses sonderbare Verhalten nicht ansteckend war.
Erst seine Magd schaffte es eines Tages, ihn aus seinem Bilderrausch aufzuwecken.
Gerlach hatte sich gerade einem neu erhaltenen Bild gewidmet.
Lückenloses Dickicht erfüllte die Leinwand. Tausende Blätter hingen an Büschen und Bäumen und raschelten im lauen Wind. Zaghaft ragten hinter dem Grün vereinzelte Zweige hervor, die in der Dunkelheit der schattigen Baumkronen an nur noch erahnbaren Stämmen endeten. Weder der Waldboden noch ein Streifen Himmelblau rahmten die Ränder des Bildes ein – alles erstrahlte in freundlichen
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