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Der Widerschein

Der Widerschein

Titel: Der Widerschein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Schönherr
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lärmten nicht nur herum wie eine losgelassene Herde von Ochsen, sie wehrten sich gegen kleinste Bestrafungen, warfen mit Essen, Tellern und Möbeln umher, sie rebellierten sogar gegen die Fürsorge, die ihnen in Form von regelmäßigen Reinigungen entgegengebracht wurde. Huygens sah sich gezwungen, auffällige Störenfriede mit Fußfesseln, Arrestzeiten und unangenehmen Sanktionen zu maßregeln – ohne Erfolg: Keine seiner Maßnahmen erwirkte Besserung oder Einsicht.
    Verblüfft verfolgte Huygens etwa über mehrere Stunden hinweg die hilflosen Versuche eines kräftigen, aber offensichtlich einfältigen Burschen, der einen leeren Becher zum Mund führte, um daraus zu trinken, dann diesen schließlich wütend zu Boden schleuderte und ihn im gleichen Moment wieder ergreifen wollte, um die Prozedur von vorne zu beginnen.
    Auch wenn die Idioten und Verrückten den Oberaufseher und seine Untergebenen häufig zu zusätzlichen Arbeiten und spontanen Nachtschichten verpflichteten: Huygens verbrachte freiwillig die meiste Zeit in jenem Trakt, dem diese Institution ihren Namen verdankte.
    Dies lag zum einen daran, dass selbst unter diesen stumpfsinnigen Kreaturen einige Exemplare vertreten waren, die sich nicht nur klar und deutlich ausdrücken konnten, sondern phantastische Geschichten darboten.
    Huygens kannte mehr als ein Dutzend Insassen, die Stein und Bein schworen, dass sie dem Leibhaftigen begegnet oder – im Gegenteil – von Unserem Herrn Jesus erleuchtet worden waren, nein, die heilige Jungfrau Maria war ihnen mehrfach erschienen, man sei einer der Heiligen Drei Könige und natürlich konnte sich niemand erklären, wie man in diese missliche Lage gekommen war.
    Die Anwesenheit in diesem Haus konnte doch nur ein großer Irrtum sein!
    Ein neuer Insasse namens Fischers, bis vor kurzem noch Geheimrat einer nahe gelegenen Stadt, behauptete fortwährend, einen Engel gesehen zu haben, er sei sogar hier, in diesen Hallen. Sein Begleiter Ferdinand, der sei ein begnadeter Künstler – ein wahrer Gott! – die Wiedergeburt des Allmächtigen! – der konnte mit seinen Bildern Menschen verändern!
    Nein, besser noch: Verwandeln! Verzaubern! Ein wahrer Gott der Kunst! Hallelujah!
    Tatsächlich schien dieser Ferdinand mit Fischers bekannt zu sein, gehörte selbst jedoch zu der stillen Art von Irren, die im Durcheinander dieser Abteilung nahezu unsichtbar wurden.
    Allem Anschein nach waren der Geheimrat Fischers und besagter Ferdinand mit einer Pilgergruppe unterwegs gewesen – unter dieses Halbwissen mischten sich allerdings aber auch zahlreiche Ungereimtheiten: Von Zaubermünzen und einer grausamen Hinrichtung war die Rede, von Liebe und Eifersucht und zuletzt von Menschen, die vom Leibhaftigen besessen sein sollten.
    Zu diesen seltsamen Geschichten kamen nur zwei verbürgte Nachrichten hinzu: Zum einen, dass ein weiterer Bursche namens Piet sich gegen seine Verhaftung gewehrt hatte und dabei umgekommen war. Und, dass die erwähnte Pilgergruppe wenige Tage, nachdem man diese beiden Gestalten bei den zuständigen Behörden gemeldet hatte – von einem jungen Richter mit seiner Verlobten –, in einen schlimmen Schneesturm geraten war, bei dem alle Personen ihr Leben gelassen hatten.
    All diese vagen Informationen bestätigten Huygens in seiner Ansicht, dass sowohl Fischers als auch Ferdinand in dieser Anstalt besser aufgehoben waren als in der Welt da draußen.
    * * *
    Huygens persönlicher Favorit war ein älterer, drahtiger Mann – mit weißgrauen Haaren bis zu den Schultern und harten, aber freundlichen Gesichtszügen –, der sich schon bei seiner Einlieferung allen Wärtern mit Howard Brown vorstellte: Er sei Engländer, Abgesandter der englischen Krone und in bedeutender Mission auf dem Kontinent unterwegs, Details dürfe er leider nicht preisgeben.
    Sein ganzes Wesen, sein akkurates Auftreten wie auch seine wortgewandten Äußerungen beeindruckten Huygens vom ersten Tag an. Keine noch so unangenehme Maßnahme brachte Brown dazu, seinen Standpunkt zu verändern – nicht wie andere seiner Patienten, die je nach Laune ihre Identität austauschten, neue Attitüden entwickelten, sich durch stetig abstruser werdende Geschichten nicht nur unglaubwürdig, sondern geradezu lächerlich machten.
    Der vermeintliche Engländer spielte seine Rolle unvergleichlich gut.
    Nicht nur Huygens, sondern sämtliche Wächter und Irren schwiegen andächtig, wenn Brown sich plötzlich zurücklehnte, würdevoll über sein Kinn strich und seine

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