Der Widerschein
Auf dem Vorplatz brannten Lagerfeuer, die romantische Funkenschwärme entfachten und behagliche Wärme verbreiteten.
Das Jammern und Klagen hinter den Mauern hatte schon lange aufgehört.
Das Ende der Reise, flüsterte Gerlach, berührte beim Sprechen mit der Zunge seine beiden verbliebenen Zähne, am Ende der Welt.
Er saß nach wie vor an jenem Platz, von dem aus er Höhepunkt und Ausklang der Katastrophe mitverfolgt hatte, starrte in die Dämmerung hinein.
Huygens’ Worte gingen ihm wieder und wieder im Kopf umher.
Wie hatte der Oberaufseher das nur gemeint?
Ferdinand: ein Wahnsinniger, kein Künstler. In der Welt würde er untergehen, und mit ihm die ganze Welt.
Was konnte dieser Huygens von Ferdinand Meerten wissen, was Gerlach nicht wusste?
Was für eine Art von Kunstwerk hatte dieser Teufelskerl hier nur erschaffen?
Das Lagerfeuer knisterte, Pferde schnaubten, überall lachten und erzählten Menschen miteinander. Von der nahen Küste konnte man leise das Meer rauschen hören.
Nach Hause, sagte Gerlach plötzlich.
Er ließ seinen Kopf hängen, erhob sich seufzend.
Nur noch nach Hause.
Während der letzte Schein der Abendsonne den Horizont passierte, sattelten seine Begleiter die Pferde, Gerlach warf einen letzten Blick auf das qualmende Gebäude – mit einem Mal kam unerwartet Bewegung in die Menge um sie herum: Wie auf Kommando wandten sich alle Köpfe dem ehemaligen Gefängnis zu, aus dem gewaltiger Lärm erklang.
Menschen rannten, schrien, stolperten, rissen im Laufen alles mit, was sich ergreifen ließ.
Die Irren, die Kranken, die Gefangenen!
Eine dunkle Masse quoll aus dem Haupttor hervor, ergoss sich über den gesamten Vorplatz, verwandelte die vorherrschende Euphorie in fassungslose Angst und panischen Schrecken.
Aus dem ohrenbetäubenden Kreischen und Schreien formte sich nach und nach ein vielstimmiger Satz, immer wieder ausgerufen und gebrüllt: Gott schütze den König!
Schon wurden Gerlach und seine Begleiter vom Strom der Flüchtenden mitgerissen.
* * *
Dichter Nebel umgab das schmale Boot. Kleine Wellen spielten gelangweilt mit den Rudern, nur das Knirschen des Rumpfes durchbrach bisweilen die Stille.
Gerlach starrte ins Nichts. Zwei Dutzend Menschen kauerten um ihn herum; Verletzte, Männer, Frauen, uralte Greise, kleine Kinder, aneinander gedrückt, schlafend – allen stand der erlebte Schrecken ins Gesicht geschrieben. Ein älterer Mann neben ihm, mit weißen schulterlangen Haaren, strich geistesabwesend seine Uniform glatt – offenbar einer der wenigen Wärter, der nicht nur dem brennenden Irrenhaus, sondern auch den entflohenen Leprakranken hatte entkommen können.
Das Boot schaukelte, ein nicht allzu fernes Donnern rollte über das Wasser.
Mit Entsetzen erinnerte sich Gerlach an die vergangene Nacht: verzerrte Fratzen, bizarr bemalte Gestalten, unzählige entstellte Körper, die auf ihn zu rasten, seine Begleiter ergriffen, zu Boden rissen – ein Wunder, flüsterte er sich selbst zu, dass gerade er, Gerlach, es lebend aus dieser Hölle geschafft habe.
Seufzend schloss er die Augen, betastete mit der Zunge seine blanke Zahnleiste – im Laufe der Nacht hatte er seine beiden letzten Zähne eingebüßt.
Wo und wann er sie verloren hatte, war nebensächlich – für Gerlach war der Verlust ein untrügliches Signal: Er würde sterben, ohne seinen Traum verwirklicht zu haben, ohne diesem begnadeten Künstler jemals selbst begegnet zu sein, diesem Ferdinand Meerten, der ihm mit seinen Bildern die wirklich wahre Welt vor Augen geführt hatte – eine Welt der ewigen Jugend, der makellosen Körper, der völligen Harmonie!
Gerlach hustete, sein Körper wurde durchgeschüttelt, er schmeckte Salzwasser auf seinen Lippen.
Aber diese Begegnung war ihm ja leider nicht vergönnt! Gerlach starrte wütend in den Nebel hinein. Nicht nur, dass er sicher bald sterben würde; er würde allein sterben: arm, alt, entstellt, am Ende der Welt – und ohne einen einzigen Zahn im Mund.
Wie ein Aussätziger, ging es Gerlach durch den Kopf.
Es donnerte erneut, ein schwacher Lichtblitz ließ den Nebel aufleuchten.
Der uniformierte Mann hob nun seinen Blick, spähte in die Richtung des Leuchtens.
Das höre sich nach Kanonen an, flüsterte er zu seinem anderen Nachbarn, die einzige Person in dem kleinen Boot, die Gerlach von seiner Position aus nicht sehen konnte.
Der Wärter redete leise weiter.
Vermutlich sei ein Kriegsschiff zur Küste geschickt worden; man könne nie vorhersagen, wie
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