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Der Willy ist weg

Der Willy ist weg

Titel: Der Willy ist weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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Primadonnen in eine vorher festgelegte Reihenfolge zwingen wollte, war mir völlig schleierhaft.
    Und wenn wir sie packten, die Drecksäcke, bekämen wir ja auch die Moppen wieder zurück, ging mir auf, und plötzlich verschmolz ich mit der Menge wie ein Tropfen mit dem Teich. Teilte mit einem Male all ihre gerade noch so trivialen Hoffnungen und Sehnsüchte, bangte, flehte und betete mit ihnen.
    Geld, dachte ich. Gott, könnte das Spaß machen.
    Patsch, die Gatter flogen auf, alle Teilnehmer kamen herausgeschossen und stoben mit flatternden Schweifen und wippenden Ärschen unter dumpfem Trommeln, handliche Rasenstücke in die Luft schleudernd, an uns vorbei, bogen in die erste Kurve und verschwanden erst mal hinter Hecken.
    Zwischen fünfzig und hundert Mille für jeden, dachte ich, Suzuki GSX 1100 R, dachte ich, das schnellste Serienmotorrad der Welt, dachte ich, in Blauweiß, dachte ich, mit 'nem feuerroten >R< am Heck und 'nem breiten Superbike-Lenker und 'ner Devil-Tröte und - Hörte ich richtig, oder lag unser Gaul ganz hinten? Yep, Letzter, ausgangs des ersten Bogens.
    Aah, verdammt, wie hatten wir uns nur auf einen Plan einlassen können, den ein Haufen Pygmäen ausgeheckt hatte? Ein Haufen mieser kleiner Scheißer? Ich sah mich schon die krumme XS-Gabel zum Richten bringen und ein weiteres Jahr mit maximal 180 durch die Gegend juckeln, und dann fiel mir Willy wieder ein und ich kam wieder zu mir und es war kalt, hier draußen.
    Das Feld hatte die Gegengerade hinter sich und unser Klepper lag an vierter Stelle und holte ständig auf. Mitten durch die zweite Kurve begannen die Jockeys und der Streckensprecher gemeinsam das Tempo anzuziehen. Bis hierhin, begriff ich, war alles nur Spaß gewesen.
    Da kamen sie wieder in Sicht, in Schräglage auf die Gerade hinaus beschleunigend wie vierbeinige Motorräder. Unser Gaul war Dritter und außen und gewann trotzdem an Boden. Der Streckensprecher und das wettende Volk spürten die Chance einer sich anbahnenden Sensation. Alles, jeder, ob er nun entsprechend gesetzt hatte oder nicht, starrte dem herannahenden Feld entgegen.
    Zweiter! Und die beiden anderen in genau der richtigen Reihenfolge! Deliah hielt meinen Arm umklammert, dass mir die Fingerspitzen taub wurden.
    Noch zweihundert Meter, und unser Kandidat holte weiter auf, alle hatten jetzt die Gerte draußen, es sah echt aus, völlig überzeugend, die Lautsprecherstimme begann zu klingen wie gerapptes Jodeln, die Menge schrie, trampelte und gestikulierte, die Reiter, die Pferde, sie gaben ihr Letztes, ihr AllerEs war zu echt. Unser Gaul ging knapp in Führung, gepeitscht von der Gerte und dem unkontrollierten Geschrei aus tausend Kehlen, doch irgendwas war mit ihm nicht in Ordnung. Der Schaum lief ihm aus dem Maul wie aus einer überladenen Waschmaschine, er rollte mit den Augen, er verlor an Boden, der Jockey geriet in Panik, drosch wie von Sinnen mit der Gerte, das Pferd machte sich noch einmal lang und noch mal und bekam den Kopf wieder nach vorne und dann, direkt vor unseren Augen, blieben die Vorderbeine plötzlich einfach hinten, wie an Bändern zurückgehalten, man sah - verrückterweise -förmlich den Punkt auf der Bahn, wo sie hätten aufsetzen sollen, doch es wurde nichts draus, es war, als ob der Körper oben schneller geworden wäre als die Hufe unten, und dann flog der Jockey aus dem Sattel und flog und flog.
    Mit einem Wumms, den man in den Füßen spürte, schlug der schwere Pferderumpf nach einem schmerzhaft anzuschauenden Überschlag auf der Grasbahn auf. Wälzte sich noch mal mit scharrenden Hufen, streckte noch einmal in zittrigem Krampf die Beine und entspannte sich dann auf die unmissverständliche, endgültige Weise, bevor der herbeigeeilte Veterinär auch nur Zeit gehabt hätte, seine Tasche aufzumachen. Kackte noch einen letzten Köttel und dann war Schluss.
    Einen Meter vor der Ziellinie.
    Kurze, völlige Stille.
    Ich war schon auf dem Rückweg, seltsam zufrieden, wie es nur ein Prophet sein kann, der alle seine düstersten Vorahnungen bestätigt sieht, Deliah immer noch mit beiden Händen an meinem Arm, immer noch zurückstarrend, auf den Kadaver, als das Gebrüll endlich losbrach.
    >Rote< in Kombination mit Alkohol sind als Kriegsdroge so erfolgreich, weil sie gezielt den Teil des Hirns lahm legen, der am ehesten bereit wäre, sich zu arrangieren, sich abzufinden. Den Part in uns, der auch mit einer Niederlage leben könnte. Sie machen, dass einem die Vorstellung eines Nachgebens

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