Der Willy ist weg
sind wir ja auch noch da, was soll dir da schon passieren?«
»Ach ja? Ihr seid auch noch da? So, wie ihr für Willy da wart? Und verdammt viel genutzt hat es ihm, hier, kuckt euch das Foto noch mal an!«
»Ah, jetzt sind wir also schuld an seiner Entführung? Ist es das? Willst du das damit sagen?«
Und so weiter und so fort. Ich ließ sie in der Küche zurück. Gute Jungs, sicher, Salz der Erde, wenn's ans Handeln ging, doch bei Gott keine große Hilfe beim Denken.
Da war praktisch null Chance, das Geld aufzutreiben. Es war ein Zeichen von Aktionismus als einer Ausdrucksform der Hilflosigkeit, dass wir es überhaupt versuchten. Genau wie dieses ziellose Abklappern von Kneipen und Discos, dieses latent drohende Befragen von Gästen und Personal, das den Jungs in den letzten Tagen eine Menge neue Freunde gemacht haben dürfte.
Nein, wenn wir Willy finden wollten, mussten wir nicht draußen anfangen, sondern drinnen. Bei Willy selbst. In seinem Zimmer.
Ich drückte die Türe auf und knipste die Deckenlampe an.
Es war, nimmt man den Charakter des Bewohners als Prämisse, kein ganz gewöhnlicher Raum.
In der Mitte, auf einem Couchtisch, thronte der massive schwarze Kasten des Fernsehers, mit dem Rücken zur Türe. Dahinter stand ein altehrwürdiges Ledersofa an der Wand, darüber, auf der kunstvoll gespannten Leinentapete, fünfzehn gerahmte Autogrammfotos von Dagmar, alle mit einem entzückenden Lächeln. Neben dem Sofa ein Tischchen mit einem Silbertablett, und darauf der seligen Mutter Heckhoffs ganzer Stolz, ein sündteures, ich glaube chinesisches Teeservice. Alles auf Hochglanz, staubfrei, keimfrei. Teeservice nie benutzt. Alles teuer und elegant und ein bisschen steif, vielleicht. Alles in diesem vom Licht des Fernsehers bestrichenen Teil des Zimmers.
Der Rest der Bude war eine völlig andere Geschichte. Der Rest der Bude stand im krassesten vorstellbaren Gegensatz zu >ein bisschen steif<. Einmal abgesehen von den Laken, sollte ich vielleicht sagen. Und der einen oder anderen verirrten Socke, womöglich. Davon einmal abgesehen war der Rest der Bude . locker. Locker im Umgang mit überkommenen Vorstellungen von häuslicher Ordnung, persönlicher Hygiene und allgemeiner Moral. Manche der Fotos an den Wänden hätten einen David Mapplethorpe erbleichen lassen. Auch wenn er sicherlich Spaß gefunden hätte an dem vielen Spielzeug, das praktisch überall herumlag. Oder -hing. Wenn es nicht unter der Decke schwebte, wie die aufblasbare ... tja. Eine Meerjungfrau war es nicht. Meerjungfrauen ähneln gemeinhin vom Nabel abwärts einem Fisch. Und nicht einer besonders zotteligen Ziege mit einem Euter, neben dem sich Samantha Fox wie ein Fahrrad mit Platten auf beiden Reifen vorgekommen wäre. Von manchen der anderen bunt verstreuten Artikel konnte man nur ahnen, wofür sie gut sein mochten. Nach der genauen Funktion dieses langen, spiralförmigen Dings mit den Federn und Glöckchen auf der einen und den zwei Metern stacheldrahtumwickelten Gartenschlauchs auf der andern Seite hatte ich mich bei allem Interesse nie zu fragen durchringen können. >Es geht mir eigentlich nur ums Rumkriegen<. Ja, ja, Willy ...
Erst mal rührte ich nichts an, sondern ließ nur den Blick schweifen, ziellos. Ich suchte nach nichts, sondern wartete, dass mir etwas ins Auge spränge. Etwas, das hier nicht hingehörte, oder, umgekehrt, eine Leere, eine Stelle, an der etwas gewesen war, das jetzt fehlte.
Nicht zuletzt, um Willys wöchentliche Briefe an Dagmar in eine lesbare Form zu bringen, hatte ich mich öfter und länger hier aufgehalten als jeder andere der Hausbewohner. Ich kannte das Inventar also einigermaßen.
Mittendrin, tief versunken, Fühler des Unterbewussten in alle Richtungen ausgestreckt, hörte ich meinen Namen rufen. Telefon. Aah, verdammt.
»Habt ihr das Geld?« Heiseres, raues Flüstern.
»Fast«, sagte ich. Das >hätten wir's gehabt< ließ ich unausgesprochen. »Wir kratzen es aus allen Ecken und Enden zusammen, doch noch haben wir es nicht komplett.«
»Ihr solltet euch besser beeilen.« Was sollte das heißen? Eine Stinkwut sprang mich an wie ein Reflex.
»Und ihr solltet uns besser mit einem Lebenszeichen versorgen«, blaffte ich zurück. »Denn sobald wir das Vertrauen verlieren, Willy lebend wiederzusehen, alarmieren wir die Bullen, die Presse, das Fernsehen. Dann machen wir Wind«, bölkte ich. »Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Ihr wollt ein Lebenszeichen?« Die Stimme am anderen Ende klang ruhig
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