Der Wind bringt den Tod
richtig gewesen ist, meinen Partner heute Morgen allein zu der Pressekonferenz zu schicken«, teilte er Jule mit, nachdem er die Tüte mit dem Brief ins Handschuhfach befördert hatte.
»Pressekonferenz?« Eine düstere Vorahnung ließ Jule nur noch flüstern.
»Wir haben die Identität der Toten aus dem Wäldchen geklärt«, erwiderte er nach einem langen Zug an seiner Zigarette.
»Es ist Kirsten Küver, oder?« Jule spürte, wie ihr die Knie weich wurden. War Smolski heute nur nach Odisworth zurückgekommen, um Kirstens Eltern die furchtbare Nachricht zu überbringen?
Er sah sie lange und forschend an, als stünde ihr die Lösung eines komplexen Rätsels ins Gesicht geschrieben. »Nein«, sagte er plötzlich und schüttelte den Kopf. »Kirsten Küver ist es nicht.«
Eine kleine Welle der Erleichterung durchflutete Jule. Sie hielt jedoch nur wenige Herzschläge an. »Wenn sie es nicht ist, wer ist es dann?«
»Hoogens verrät der Presse in diesen Minuten, was wir über sie wissen.« Smolski hörte sich an wie eine Maschine, als er die Fakten kurz und bündig herunterratterte. »Sie heißt Melanie Tockens. Spitzname Melle. Einundzwanzig Jahre alt. Sie kommt aus Joldebek und ging keiner festen Arbeit nach. Im Sommer kellnerte sie aushilfsweise in diversen Ausflugslokalen an der Küste.«
Beim letzten Satz senkte Smolski die Stimme und kniff die Augen zusammen. Jule drehte sich um. Eva war aus dem Haus gekommen. Sie trug einen Eimer in der einen und eine kurzstielige Hacke in der anderen Hand. Sie winkte ihnen mit der Hacke zu, ehe sie sich zum Unkrautjäten vor eines ihrer Blumenbeete kniete. Beim leisen Knirschen, wie die Hacke in den weichen Erdboden fuhr, stieß Jule der Kaffee bittersauer auf.
»Melanie Tockens wurde zum letzten Mal am vierzehnten September des letzten Jahres gesehen«, führte Smolski weiter aus. »Bei einer Scheunendisco in Drehlstedt, der letzten dieser Saison. Sie war in Begleitung von zwei Freundinnen unterwegs, die die Veranstaltung allerdings bereits gegen zwölf Uhr dreißig verließen. Sie wohnte noch bei ihren Eltern, die sie am Abend des Fünfzehnten als vermisst meldeten. Es ist unklar, ob Melanie Tockens zu diesem Zeitpunkt bereits tot war oder nicht.« Er blies Rauch durch seine Nasenlöcher. »Woher kennen Sie Kirsten Küver?«
Jule lauschte einen kurzen Moment dem Knirschen der Hacke, ehe sie sagte: »Ich habe gestern mit ihrer Mutter gesprochen. Die Küvers besitzen Land, das für den Bau des Windparks infrage kommt.«
»Ich frage nur, weil ich natürlich auch über diesen Namen gestolpert bin«, meinte Smolski. »Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, habe ich in den vergangenen Tagen haufenweise Akten über vermisste Personen und ungeklärte Todesfälle gewälzt.«
Das Knirschen machte Jule immer unruhiger. »Glauben Sie, dass Kirsten auch tot ist?«
Smolski senkte seine Stimme noch weiter und beugte den Kopf so dicht an Jule heran, dass sein Atem über ihr Gesicht strich. »Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass man im März bei Glückstadt die Leiche einer blonden Frau aus der Elbe gefischt hat. An einem Pfeiler eines Steges, der zu einem zum Verkauf stehenden Ufergrundstück gehörte, auf dem nur alle paar Wochen einmal der Makler vorbeikam. Sie hat eine Weile im Wasser gelegen, was die Identifizierung deutlich erschwerte.«
»Kirsten?«, fragte Jule.
»Ihr Name war Jennifer Sander, wohnhaft in Hamburg-Billstedt. Sechsundzwanzig Jahre alt, Angestellte bei einem Lebensmitteldiscounter. Nach Aussagen ihrer Familie, Freunde und Bekannten eine lebenslustige Person, die gern ausgiebig feierte. Sie ist nach dem Besuch einer Großraumdisco in Trittau kurz vor Weihnachten verschwunden. Ihr Obduktionsbericht erwähnt auffällige Verletzungen über der Augenhöhle. Und da waren noch weitere Verstümmelungen und Auffälligkeiten an ihrer Leiche, inklusive einer ganz besonderen, die sich auf gar keinen Fall durch eine Schiffsschraube oder eine andere Einwirkung von außen erklären lässt. Eine, die wir auch bei dem Opfer aus dem Wäldchen hier festgestellt haben.«
Jule musste sich an der Kühlerhaube von Smolskis Wagen abstützen. In diesem Augenblick wurde ihr alles zu viel: das Knirschen von Evas Hacke, Smolski, der nach Zigaretten stank, die Eröffnungen über die Wasserleiche. Sie fokussierte sich auf das kalte Metall unter ihrer Handfläche.
»Melanie Tockens war nicht das erste Opfer dieses Mörders«, sagte Smolski. »Was Kirsten Küver
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