Der Wind bringt den Tod
neu aus, und in drei Ecken hingen große Flachbildfernseher, auf denen ein Sportsender lief. Nur die Musik, die aus den Lautsprechern plärrte – ein Schlager über eine Zuckerpuppe aus einer Bauchtanztruppe –, stammte noch aus den Sechzigerjahren.
Der »Dorfkrug« war gut besucht, was am Mittagstischgericht liegen mochte: Kohlrouladen, deren würziger Duft Jule das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie suchte noch nach einem freien Tisch, als sie Malte Jepsen bemerkte. Er saß an der Bar und trank Flens aus der Flasche. Ein freundliches Lächeln teilte seinen weißen Bart, und er hob die Hand, um Jule zu sich zu winken.
Sie steuerte zwischen den Tischen und den neugierigen Blicken der Gäste auf ihn zu. Dann fiel ihr Blick auf einen Tisch an einem der Fenster, und sie blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen. Sie wollte nicht glauben, ihn hier zu sehen. Nachdem sie Malte mit einer entschuldigenden Geste und einem Fingerzeig auf den unerwarteten Gast am Fenster vertröstet hatte, trat sie an dessen Tisch.
Er fuhr zusammen, als er sie bemerkte, und sein kahl rasierter Schädel versank ein Stück zwischen seinen breiten Schultern. Wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzog. Seine Augen weiteten sich. »Jule! Was machst du denn hier?«
»Das Gleiche könnte ich dich fragen.« Es war ein unglaublicher Zufall. Und vielleicht noch mehr als das. Jule war ausnahmsweise geneigt, Caros Glauben an die schicksalsweisende Macht der Tarotkarten zu teilen. Rolf Behr war der letzte Mensch, mit dem sie in Odisworth gerechnet hatte. »Ich arbeite im Moment hier.«
»Und ich bin hier geboren«, festigte Rolf Jules Überzeugung, dass diese Begegnung weit über einen bloßen Zufall hinausging. Er zeigte auf einen der freien Stühle. »Setz dich doch.«
Das tat sie, wenn auch mit ungelenken Bewegungen, weil sie es nicht schaffte, den Blick von seinem runden Gesicht zu nehmen.
»Was ist los?«, wollte er wissen.
»Ich bin nur total überrascht«, antwortete Jule. Das war die Wahrheit.
»Positiv oder negativ überrascht?«, erkundigte er sich.
»Positiv, absolut positiv«, sagte sie schnell. »Ich dachte nur, dass … also … nach dem, was am Samstag war …«
»Schwamm drüber. Ich hätte mich dir nicht so aufdrängen sollen.«
»Du hast dich mir nicht aufgedrängt«, beteuerte sie. »Ich war bloß … bloß …«
»Schon gut. Du musst mir das nicht erklären.«
Sie atmete auf. »Danke.«
»Magst du was essen?«
»Nein.« Ihr Hunger war tatsächlich fort. »Nur was trinken.«
»Cola?«
»Cola light.«
Er stand auf und ging zum Tresen. Sie schaute ihm nach. Er kam aus Odisworth. Sie wollte es immer noch nicht ganz glauben. Hatte sie den Namen Behr im Telefonbuch gesehen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Komisch. Oder auch nicht. Jule mahnte sich selbst zur Vorsicht. Sie hatte schon einmal einen schlimmen Fehler gemacht, nur weil ein Name nicht im Telefonbuch eingetragen war. Rolf wohnte offensichtlich nicht mehr hier im Dorf, und was, wenn auch seine Eltern und seine restliche Verwandtschaft weggezogen oder tot waren? Dann würde sie sich wieder in die Nesseln setzen wie bei Andreas. Außerdem war der Tag mit ihm ja gerade deshalb so schön gewesen, weil sie die Vergangenheit so mühelos hatte ausblenden können. Sie hatten einfach eine Menge Spaß miteinander gehabt: nur er und sie im Hier und Jetzt, losgelöst von allem, was war und kommen mochte. Und was kümmerte einen auch die Vergangenheit oder die Zukunft, wenn man gerade erst dabei war, sich kennenzulernen? Das Leben einfach nur genießen – wie schwer konnte das schon sein?
Er kam mit ihrer Cola zurück, und sie stießen an.
»Du trinkst Wasser?«, fragte Jule.
»Klar. Ich bin mit dem Auto hier.« Er klopfte sich auf das Bäuchlein, das sich unter seinem kurzärmeligen braunen Karohemd spannte. »Und der sollte auch nicht weiterwachsen.«
»Ach was. Da hat man wenigstens was in der Hand«, munterte Jule ihn auf.
Er stellte lächelnd sein Glas ab und breitete die Arme aus. »Also, jetzt weißt du es«, sagte er. »Ich bin ein waschechtes Landei. Aber zu meiner Verteidigung möchte ich vorbringen, dass ich mir das nicht ausgesucht habe. Und dass ich ja immerhin nach Norderstedt gezogen bin. Ist es meine Schuld, dass mir meine alten Freunde nachspionieren, wenn sie günstige Gebrauchtwagen suchen?«
Jule ging ein Licht auf. Es gab eine weit verbreitete Theorie, wonach jeder Mensch auf der Welt jeden beliebigen anderen
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