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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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ausdrücklich zugestimmt hatte. Es ging nicht anders: Sie musste über ihren eigenen Schatten springen. Wie gestern bei Eva Jepsen. Eva hatte ja auch Verständnis für sie gezeigt. »Ich fahre nicht gern Auto«, flüsterte sie und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
    »Ehrlich?« Er klang mehr verwundert als spöttisch.
    Sie nickte stumm.
    »Und dann willst du allein nach Süderhafen fahren, anstatt dich von mir mitnehmen zu lassen?«
    »Das ist eben alles sehr … kompliziert.« Sie sprach stockend weiter, und er lauschte ihr aufmerksam. Sie berichtete von ihrem Unfall. Davon, wie sie jahrelang allein bei dem Gedanken ans Autofahren heftige Panikattacken erlitten hatte. Wie viel Überwindung es sie gekostet hatte, eine Therapie zu beginnen. Wie schwierig es für sie gewesen war, zu Klaus ins Auto zu steigen, obwohl sie ihn schon kannte, seit sie bei Zephiron arbeitete. Wie leid es ihr tat, dass sie es wahrscheinlich nicht schaffen würde, sich neben ihn in einen Wagen zu setzen, weil sie ihn dafür nun einmal nicht gut genug kannte, und wie dumm sich das für ihn anhören musste. Seine Reaktion auf ihr Geständnis fiel verblüffend aus.
    Er griff über den Tisch, nahm ihre kalten Finger in seine warmen Hände und sagte: »Gut, dann fährst du eben, und ich sitze neben dir. Jetzt gleich.«
    »Jetzt gleich?« Sie hatte keine Ahnung, was er vorhatte.
    »Jule, ich verspreche dir, dass du mir absolut vertrauen wirst, wenn du mich dir etwas zeigen lässt«, sagte er beschwörend. »Dafür musst du nur ein kleines Stück fahren, und ich sitze neben dir. Dir kann dabei nichts passieren. Vergiss nicht, ich bin der Autoflüsterer. Okay?«
    »Okay«, wisperte sie.
    Er stand auf, legte den Arm um ihre Schulter und zog sie sanft in die Höhe. Seine Kraft, die sie dabei spürte, übte eine ungemein beruhigende Wirkung auf sie aus. Als sie an der Tür waren, die er ihr aufhielt, fragte sie: »Aber was ist mit der Sache, die du noch erledigen wolltest?«
    Er lächelte. »Keine Sorge. Die läuft mir so schnell nicht weg.«

110
     
    Sie wusste nicht mehr, wer sie war, und sie wusste auch nicht, wo sie war. Sie stöhnte und versuchte, sich aufzurichten. Vergebens. Irgendetwas drückte an ihren Handgelenken und an ihren Schultern. Sie konnte nicht einmal die Beine anziehen, um ihren Rücken zu entlasten, weil sie auch an ihren Knöcheln und an ihren Hüften diesen sonderbaren Druck spürte. Sie schlug die Augen auf. Das Licht war viel zu grell. Es stach ihr in den Augen. Ihr Magen reagierte mit einem fiesen Krampf auf den plötzlichen Schmerz. Sie wehrte sich gegen das, was aus ihrer Kehle hochstieg, aber sie verlor den Kampf. Einen schrecklichen Moment lang hatte sie Angst, sie könnte auch ihren Kopf nicht bewegen. Dem war nicht so. Sie drehte ihn mühsam zur Seite und würgte. Schleim, zäh und gallig, quoll ihr über die Lippen. Sie spuckte und hustete. Eine Erinnerung zuckte durch ihr Gedächtnis. Starke Hände, die ihr das Haar aus dem Gesicht hielten, während sie über einer Kloschüssel kniete. Wann war das gewesen? Vorhin? Gestern? Vor einer Woche? Vor einem Jahr? Der Mann, dem die Hände gehörten … sie kannte ihn.
    Nach und nach gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit. Sie sah alles um sich herum grotesk verzerrt. Da war viel Blau, viel Weiß und Grün. Nach einer Weile erkannte sie, dass das, was ihr erst wie eine große blaue Fläche vorgekommen war, in Wahrheit zwei blaue Flächen sein mussten. Himmel. Himmel und viel Wasser. Meer. Das Weiß beschrieb eine Art Halbkreis, eine dünne Sichel ganz am Rand des unteren Blaus. Das war der Strand. Natürlich. Und das Grün, das von oben in ihr Sichtfeld ragte, mussten Palmen sein. Aber warum war ihr so kalt? Es konnte doch nicht kalt sein, wenn es hier Palmen gab. Oder?
    Sie kniff die Augen zusammen. Alles war so starr. Der Himmel, das Meer, die Palmen. Wie eingefroren. Und warum konnte sie nicht aufstehen?
    Sie hob den Kopf, Millimeter für Millimeter, um an sich herunterzusehen. Sie sah in scheinbar unendlich weiter Entfernung ihre nackten Zehenspitzen. Was war das für ein breites braunes Band quer über ihre Schultern und ihre Brust? Sie versuchte noch einmal, ihren Oberkörper anzuheben. Der Gürtel ließ es nicht zu. Rau schabte er über ihre bloßen Brustwarzen. Sie wollte die Arme in die Höhe reißen, aber es ging nicht. Sie wollte mit den Beinen strampeln, aber etwas hielt ihre Knöchel fest. Sie keuchte entsetzt und schaffte es gerade noch,

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