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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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Haus eines potenziellen Mörders zu betreten.

53
     
    Jule folgte Fehrs durch den Garten und eine Hintertür ins Haus, wo er sie bat, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, während er sich um das Wasser kümmerte. Es war nicht zu übersehen, dass in diesem Haus eine Frau fehlte. Fehrs hatte offenbar seit Wochen nicht mehr gelüftet, und es roch nach dreckigem Geschirr, kaltem Tabakqualm und alten Socken. Auf dem Couchtisch standen neben einer halb leeren Flasche Korn drei volle Aschenbecher. Der Boden rings um einen klobigen Fernsehsessel war von Krümeln übersät. Dort, wo Fehrs’ Kopf beim Sitzen normalerweise auf der Lehne ruhte, hatte das ehedem weiße Polster einen gelblichen Grauton angenommen.
    In diesem verwahrlosten Zimmer gab es allerdings eine saubere Ecke, die aus dem Chaos hervorstach. Es war diese breite Nische zwischen dem Kachelofen und einer niedrigen Tür, die Jules Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Auf einem braunen Schränkchen waren drei Gegenstände sorgsam auf Häkeldecken platziert: ein aufgeklapptes muschelbesetztes Schmuckdöschen, auf dessen rotem Samt ein Paar schlichter Ohrringe von einer Perlenkette umschlungen lag; eine altmodische Plastikhaarbürste, um deren Borsten sich graue Haare fein wie gesponnene Silberfäden wanden; und ein Stofftaschentuch, das so gefaltet war, dass ein in die Ecke gesticktes blaues M direkt zum Betrachter wies.
    Über dem Schränkchen hing ein gutes Dutzend gerahmter Fotos, durch die Jule Zeugin der unaufhaltsamen Alterung eines jungen Mädchens zur Frau und dann zur Greisin wurde – sechs oder sieben Jahrzehnte Leben, eingefangen in kleinen Rechtecken. Die ältesten Aufnahmen waren in jenem verwaschenen Schwarz-Weiß, das Jule seit jeher mit einer Vergangenheit verknüpfte, die so weit zurücklag, dass niemand mehr über sie hätte berichten können.
    Margarete Fehrs war nach den Maßstäben der Gegenwart selbst in ihrer Jugend keine sonderlich hübsche Frau gewesen: Dafür waren ihre Hüften zu breit, ihre Brüste zu flach und ihre Schenkel zu stämmig. Doch sie war groß und hatte volles blondes Haar, und sie zeigte auf jedem der Bilder ein anziehendes, wenn auch trauriges Lächeln – als hätte sie von Beginn an gewusst, dass ihr kein leichtes Schicksal vergönnt war. Sogar in Jule, die diese Bilder zum ersten Mal sah, weckte dieses Lächeln das sehnsüchtige Bedürfnis, die Frau an die Hand zu nehmen und ihr mit einfühlsamen Worten zu versichern, dass am Ende alles gut werden würde. Margarete Fehrs war eine Person gewesen, die man gewiss rasch ins Herz hatte schließen können.
    Erich Fehrs war es scheinbar genauso ergangen, und diese Nische war nichts anderes als ein Schrein für all das, was ihm verloren gegangen war, als Margarete ihn verlassen hatte. Doch wo die Fotos und die Reliquien auf dem Schränkchen Jule tief berührten, empfand sie das Kernstück dieser Zurschaustellung intimster Emotionen als höchst verstörend: Neben dem Schränkchen stand eine Schaufensterpuppe ohne Kopf, die ein von Zigarettenrauch gelb verfärbtes langes Brautkleid trug. Jule erkannte es sofort von dem Foto an der Wand wieder, auf dem Margaretes trauriges Lächeln halb verborgen unter einem Schleier lag.
    Das Wohnzimmer kam Jule beim Anblick des vergilbten Brautkleids noch stickiger vor, und sie bekam das beklemmende Gefühl, als senkte sich die Decke des Raums Stück für Stück herab. Sie fragte sich, wie einnehmend das Wesen eines Mannes sein musste, um seine Frau selbst dann nicht loszulassen, wenn sie ihm mit ihrem Verschwinden doch deutlich genug zu verstehen gegeben hatte, dass sie sich eingeengt fühlte. Fehrs, der unbemerkt von Jule zurückgekehrt war, stand mit einem Mal so dicht hinter ihr, dass sie seinen Atem im Nacken spüren konnte. »Das ist meine Frau.«
    Sie fuhr zusammen. Um ein Haar hätte sie ihm mit ihrem Ellenbogen das angekündigte Glas Mineralwasser aus der Hand geschlagen. Während sie eine Entschuldigung murmelte und das Glas entgegennahm, wurde Jule mit einem Schaudern bewusst, dass sie nicht hätte sagen können, ob Fehrs eben von seiner tatsächlichen Frau oder der Puppe in ihrem Brautkleid gesprochen hatte. Sie trank einen Schluck Wasser, um Zeit zu gewinnen. Es schmeckte bitter wie Asche.
    »Sie ist nicht mehr da«, sagte Fehrs in demselben Ton, in dem er gerade über seinen bissigen Hund gesprochen hatte.
    »Warum?« Erst als sich dieses eine, vermeintlich unschuldige Wort über ihre Lippen gestohlen hatte, wurde Jule klar, welches

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