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Der Wind der Erinnerung

Der Wind der Erinnerung

Titel: Der Wind der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kimberley Wilkins
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»Molly, ich glaube, du kennst Charlie noch nicht. Er ist mein Verwalter.«
    »Charlie!«, rief Lucy, die ihn erst jetzt entdeckte, und stürmte auf ihn zu.
    Dieser erfasste die Lage und wich zurück, damit das Mädchen ihn nicht umarmen konnte. Er hielt Draht und Zange warnend vor sich ausgestreckt. »Vorsicht, kleines rothaariges Mädchen, ich habe hier scharfe Sachen.«
    »
Das
ist Charlie?«, flüsterte Molly. »Sie hat ständig von ihm geredet. Ich hatte keine Ahnung, dass er schwarz ist.«
    »Er ist doch kaum schwarz«, bemerkte Henry achselzuckend, ohne die Stimme zu senken. »Außerdem ist es sowieso egal.«
    Beattie war hin- und hergerissen. Einerseits war es ihr unangenehm, dass sie so offen über ihn redeten, andererseits fand sie es amüsant, dass Henry Mollys Unbehagen nicht zu teilen schien.
    Lucy blieb bei Charlie stehen und unterhielt sich angeregt mit ihm über Pferde, Schule und Ostereier. Henry brachte Molly zum Wagen, und sie fuhren los. Beattie war überrascht: Molly schien in ihrem frommen Herzen keinen Platz für Menschen anderer Hautfarbe zu haben. Es war eine selektive Freundlichkeit, keine aufrichtige. Es kam nicht oft vor, dass sie sich Molly moralisch überlegen fühlte, und sie genoss das Gefühl.
    »Na los«, rief sie Lucy zu, »ich habe ein kleines Geschenk für dich.«
    Lucy schoss auf sie zu und schlang die Arme um ihre Taille. »Was denn, was denn?«
    »Ich habe dir ein Kleid genäht. Rosa. Deine Lieblingsfarbe. Komm rein.«
    Beattie führte Lucy nach oben ins Schlafzimmer. Das kleine rosa Kleid lag auf dem Bett. Lucy zog sofort Rock und Bluse aus. Sie hatte ihren Babyspeck verloren, sah auf einmal anders aus, größer, konnte selbst die Knöpfe öffnen. Eher ein Kind als ein großes Baby. Als sie das Kleid überstreifte, erkannte Beattie, dass es nicht passte.
    »Oh«, sagte Lucy.
    »Lucy, du musst gewaltig gewachsen sein!«
    Lucy grinste stolz. »Mama sagt immer, ich esse wie ein Pferd.«
    Mama.
Auf einmal war es, als hätte sie etwas Kostbares verloren. Ihre Tochter wuchs fern von ihr auf. Bei einer anderen Mutter. Seit Beattie sie zuletzt gesehen und im Arm gehalten hatte, hatte sie sich so sehr verändert. Sie würde sich immer weiter verändern, wie die Meeresoberfläche. Und eines Tages würde Beattie sie vielleicht nicht wiedererkennen. Jedenfalls nicht, wie eine Mutter ihr Kind erkannte.
    »Mummy? Bist du traurig, weil das Kleid nicht passt?«
    Sie ergriff ihre Hände. »Nein, ich kann es größer machen. Ich bin traurig, weil du ohne mich aufwächst.«
    Lucy schaute sie nur an.
    »Bist du glücklich mit Daddy und Molly?«
    »Ja. Aber es war schöner, als ich dich öfter gesehen habe.«
    »Das fand ich auch schöner.«
    »Ich mag die Schule nicht.«
    »Aber Molly hat recht. Wenn du erst lesen und schreiben kannst, schreiben wir einander Briefe. Dann können wir uns nahe sein.«
    »Na gut. Ich strenge mich mehr an.«
    »Braves Mädchen.«
     
    Als der Winter mit kalten Fingern über die Felder streifte, erhöhte der Bankdirektor die Zinsen für Beatties Darlehen. In den letzten Jahren hatte sie häufig gefürchtet, dass ihr das Geld ausgehen könnte, doch noch nie hatte sie unter solchem Druck gestanden, es aufzubringen. Sie saß stundenlang über den Büchern, stellte Haushaltspläne auf, suchte in alten Unterlagen nach den Wollerträgen früherer Jahre und schätzte den Ertrag dieses Jahres, der in vier Monaten feststehen würde. Die kalte Jahreszeit eignete sich nicht zum Sparen, und sie hatte besonderes Mitleid mit Mikhail und Charlie, die sehr viel mehr Essen benötigten als sie. Sie hatte selbst tagelang Schafe zusammengetrieben und gegen Fußfäule behandelt und wusste, dass man am Ende eines langen Tages hungrig wie ein Wolf war. Es erschien ihr grausam, ihnen an solchen Abenden nur Gemüsesuppe, Brot und Bratfett vorzusetzen.
    Doch sie beklagten sich nie. Und so wurden die drei eine Familie, verbunden durch Not, Opfer und das Gefühl, gemeinsam etwas zu schaffen. Beattie wusste um ihre privilegierte Stellung; sie war es, die am meisten von ihrer harten Arbeit profitierte. Sie schwor sich, es wiedergutzumachen und niemals so viel für sich zu beanspruchen, dass sich eine Kluft zwischen ihnen auftun und ihren Bund zerbrechen würde. Sie waren nach Lucy die wichtigsten Menschen in ihrem Leben.
    Sie entschied, dass es Zeit war, das Wohnzimmer in Gebrauch zu nehmen, obwohl sie keine Stühle besaß. Doch darin gab es den großen Kamin, und sie hatte aus Stoffresten

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