Der Wind der Erinnerung
Uhr. Fast Mittag. Ich müsste ihnen eigentlich etwas zu essen anbieten, vor allem da Patrick mir umsonst half, aber ich hatte die Lebensmittel fast aufgebraucht. Vielleicht würden sie nach Hause fahren, wenn ich mich hier drinnen still verhielt.
Doch kurz darauf klopfte es an der Tür. Ich sah hoch. Es war Patrick.
»Wir fahren jetzt.«
»Vielen, vielen Dank. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn ich sitzen bleibe. Mein Knie …«
Er sah mich eindringlich an. »Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie etwas fragen.«
Ich erstarrte. Er wollte mit mir ausgehen. Unmöglich. Ich schwieg, in der Hoffnung, ihn abzuschrecken, doch vergeblich.
»Ich spiele Klavier für eine Kindertanzgruppe in Hobart, die ein Freund von mir leitet. Diese Kinder sind wirklich etwas Besonderes. Sie hätten nicht zufällig Lust, mal vorbeizukommen und ihnen ein paar Tipps zu geben? Sie würden sich freuen, eine echte Ballerina kennenzulernen.«
Erleichtert und vielleicht auch ein bisschen enttäuscht fiel mir keine Antwort ein. »Moment, Sie spielen dort Klavier? Ich dachte, Sie wären Englischlehrer.«
»Bin ich auch. Na ja, weil ich muss. Für Englischlehrer gibt es mehr Stellen als für Musiklehrer, und ich wollte unbedingt hier in der Nähe arbeiten.« Er räusperte sich. »Und? Würden Sie mal mit nach Hobart kommen und sich mit den Kindern treffen?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich war mir sicher, dass ich Kindern keinen Tanzunterricht geben wollte, und beschloss, es auf die Mitleidstour zu versuchen. »Es ist eine weite Fahrt. Ich habe noch Probleme mit dem Knie.«
»Wenn es besser wird, könnten Sie …«
»Ich bin nur drei Wochen hier. Tut mir leid.«
Er nickte und lächelte. »Das verstehe ich vollkommen. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Ihre Meinung ändern sollten.«
Dann war er weg, und ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Warum konnte ich Kindern nicht einfach etwas über das Ballett erzählen?
Dann aber erinnerte ich mich daran, dass ich nicht lange genug hier sein würde, um Freunde zu finden oder Leuten zu helfen oder überhaupt etwas anderes zu tun, als dieses Haus auf Vordermann zu bringen. Und es wäre nicht richtig, den Leuten falsche Hoffnungen zu machen.
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Siebzehn
I ch hatte das Foto nicht vergessen, auch wenn ich es mir seit der Nacht, in der ich es gefunden hatte, nicht mehr angesehen hatte. In meiner Erinnerung hatte es sich verändert: Der Mann und Grandma hatten sich voneinander entfernt, Grandma hielt das Kind jetzt gelassener, nicht mehr vor lauter Mutterliebe fest umklammert. Doch als ich es wieder hervorholte, erkannte ich meinen Irrtum.
Der Mann hatte den Arm besitzergreifend um ihre Taille gelegt.
Sie gehört mir.
Genau das drückten auch die Arme des Kindes um ihren Hals aus. Man sah auf den ersten Blick, dass sie eine Familie waren.
Ich sah mir das Foto lange an und gelangte zu dem Schluss, dass die Frau überhaupt nicht Grandma war. Sie war eine Cousine, die ihr sehr ähnlich sah. Fast hätte ich selbst daran geglaubt. Aber nur fast.
Denn dies hier
war
Grandma, und sie schien noch eine weitere Familie zu haben.
Ich stellte mir vor, was meine Mutter sagen würde, wenn sie das Foto sähe, und beschloss, ihr noch nichts davon zu erzählen. Ich würde es mitnehmen und ihr persönlich zeigen. Bis dahin tauchte vielleicht noch ein anderes Foto auf, mit dem sich alles aufklärte. Oder ein Brief von einem Cousin, der schrieb: »Weißt du noch, wie wir damals Hand in Hand die Straße in Hobart entlanggegangen sind und alle uns für ein Paar gehalten haben?«
Diesmal nahm ich es mit nach unten und stellte es auf den Tisch im Flur, unmittelbar neben das Telefon.
Monica sagte um kurz nach elf ab.
»Wohl irgendein Magen-Darm-Infekt«, erklärte sie mit schwacher Stimme. »Ich war den ganzen Morgen auf der Toilette.«
Ich bedankte mich für ihre Offenheit und wünschte ihr gute Besserung. Ich hatte mir geschworen, heute mit dem kleinen Zimmer neben der Haustür anzufangen, in dem sich die Kartons stapelten. Doch ohne Monica wäre das schwierig. Als ich die Tür öffnete und hineinschaute, wäre ich fast verzweifelt.
Sicher, ich könnte die Kartons auch so, wie sie waren, zur Müllkippe fahren. Sie waren seit Jahrzehnten nicht geöffnet worden; daher machte es auch nichts, wenn ihr Inhalt nie wieder das Tageslicht erblickte. Doch dann erinnerte ich mich an das Foto und fragte mich, was sonst noch alles in ihnen verborgen sein mochte.
Das Zimmer selbst
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