Der Wind über den Klippen
Nostrum hatte Rohstoffe für Ökolacke geliefert und nebenbei die als Giftmüll klassifizierten Tributylzinnlacke der sowjetischen Marine eingeschmuggelt. Weshalb Juha auf die Idee verfallen war, die schadhaften Behälter auf seiner eigenen Insel zu verstecken, wusste auch Mikke nicht.
»In der Nacht nach Annes Geburtstag waren wir betrunken.
Ich hatte versucht, Juha nach Harri und nach den Tributylzinn-farben zu fragen, aber er gab nichts zu, und ich hatte nicht genug Beweise, um zur Polizei zu gehen. Eigentlich hatte ich geplant, meine Abreise ins Ausland nur vorzutäuschen. Ich wollte meine Mutter nach Åland bringen, dann aber nach Espoo zurücksegeln und ein paar Taucher anheuern, um den Meeresboden vor Rödskär abzusuchen. Es quälte mich, nicht zu wissen, wo die Fässer lagen und wie viel Gift sie enthielten.«
Nachdem sich die Geburtstagsgesellschaft aufgelöst hatte, war Mikke zu seinem Boot gegangen. Danach hatte er eine Weile mit seiner Mutter gesprochen. Als er Juha das Haus verlassen sah, war er ihm gefolgt.
»Du willst morgen abfahren, kleiner Bruder. Du bist also zur Vernunft gekommen und hast beschlossen, Harri und die giftige Farbe zu vergessen?«, hatte Juha überheblich grinsend gefragt.
»Harris Todestag muss begossen werden. Ich geh gleich mal zum Pinkeln auf die Klippe.«
Da hatte Mikke die Beherrschung verloren. Er hatte versucht, Juha zu schlagen, aber der hatte ihn beiseite gestoßen und war ans Ufer marschiert. Als er angeberisch vom Felsen ins Meer pinkelte, hatte Mikke ausgerufen, er werde nicht abreisen, sondern dafür sorgen, dass die Fässer gefunden wurden.
»Hör auf, mir zu drohen, Brüderchen, sonst ergeht es dir wie Harri.« Juha hatte ihn hasserfüllt angesehen, mit rotem Gesicht und hervortretenden Augen.
»Was ist Harri passiert?«
»Du sollst es ruhig wissen, beweisen kannst du es sowieso nicht! Ich hab den kleinen Schnüffler erledigt. Zuerst hab ich versucht, ihm gut zuzureden, aber der Bengel war selbst für das fünffache Gehalt nicht bereit, die Sache zu vergessen, also blieb mir keine andere Wahl. Er hat sich nicht mal gewehrt. Über die Farbtonnen brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen. Was machen die schon aus bei all der Scheiße, die die finnische Landwirtschaft und die baltische Industrie ständig in die Ostsee kippen? Ich hätte den Immonen gar nicht umzubringen brauchen, die Polizei hätte ihn ausgelacht, wenn er von den Tonnen gefaselt und ihnen seine toten Muscheln hingelegt hätte.«
Mikke ahmte die Stimme seines Bruders so gekonnt nach, dass ich Juhas massige, selbstsichere Gestalt beinahe vor mir zu sehen meinte.
»Da hab ich mich auf Juha gestürzt. Das Irre an der Sache ist, dass ich ihn genauso getötet habe wie er Harri, aus Wut, aus einem plötzlichen Affekt. Juha war zwanzig Kilo schwerer als ich, aber weniger fit und stärker betrunken. Und er hätte mich garantiert umgebracht, wenn ich ihm nicht zuvorgekommen wäre. Ich hatte eine alte gusseiserne Kugellaterne in der Hand.
Damit hab ich zugeschlagen, er ist hingefallen und den Felsen hinuntergerollt.«
Eine Weile hatte Mikke nur dagestanden und vor sich hin gestarrt, dann war er weggerannt und hatte die zerbrochene Laterne mitgenommen. Am anderen Ende der Insel hatte er sie mit Steinen gefüllt und im Meer versenkt. Er hatte keine Sekunde geschlafen, sondern die ganze Nacht auf Juhas schwere Schritte gewartet.
»Aber er kam nicht zurück. Erst im Morgengrauen habe ich mich wieder ans Ufer gewagt, um nachzusehen, was ich angerichtet hatte. Juha lag tot im Wasser. Ich wusste nichts anderes zu tun, als ihn an Land zu ziehen und zu behaupten, ich hätte ihn gerade erst gefunden.«
»Hat deine Mutter erraten, was passiert war?«
»Ich glaube ja, aber sie hat nichts gesagt.«
Auf meine Frage, woher sie wisse, dass Mikke seinen Halbbruder getötet hatte, hatte Katrina mir keine Antwort gegeben.
Das war das Klügste, was sie tun konnte, denn im schlimmsten Fall hätte man ihr Beihilfe zur Last legen können. Sie hatte mich gefragt, welche Strafe Mikke zu erwarten habe. Ich hatte es ihr nicht sagen können, das hing davon ab, ob es sich um Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge handelte.
Puustjärvi seufzte schwer.
»Können wir einen Moment unterbrechen? Ich hab so furchtbares Sodbrennen. Ich hol mir nur schnell eine Tablette.«
»Okay. Bring uns Tee mit, es wird noch eine Weile dauern.«
Als die Tür hinter Puustjärvi zufiel, sah Mikke mich zum ersten Mal an. Ich
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