Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
Vom Netzwerk:
beraten können«, schlug er vor und streckte mir die Hand entgegen. Ich sprang so ungeschickt auf das Deck der »Espoo III«, als wäre ich zum ersten Mal auf See. Ich war völlig durchgefroren und konnte die Hände kaum noch bewegen. In der Kajüte war es warm.
    »Glaubst du, er meint es ernst?«, fragte Raitio und bot mir einen Stuhl an, doch ich winkte ab. Ich wollte die »Leanda«, die man durch das Kajütfenster sah, im Auge behalten.
    »Ja. Bei der Vernehmung hat er gesagt, er wolle sich das Leben nehmen. Lass mich mal mit ihm reden.«
    Raitio gab mir das Megaphon, ich ging damit an Deck. Zu meiner Verwunderung entdeckte ich Koivu auf der »Espoo II«, die sich neben uns gelegt hatte. Wir winkten uns zu.
    »Mikke!« Meine Stimme hallte über die lichtgefleckte Seide des Wassers, sie klang fremd. »Maria hier! Komm runter von der ›Leanda‹!«
    Ich sah, wie er langsam den Kopf schüttelte.
    »Du hast ein Telefon dabei, nicht wahr?«
    Diesmal nickte er.
    »Hol es aus der Kajüte, dann können wir reden.«
    Mikke stand einen Moment lang reglos da, dann stellte er den Benzinkanister ab und glitt in die Kajüte. Ich nahm mein Handy, und als Mikke wieder an Deck erschien, tippte ich die Nummer der »Leanda« ein und ging an den Bug. Vorsichtig setzte ich mich auf das eiskalte Deck. Nach dem vierten Klingeln meldete Mikke sich.
    »Ich hab dich doch gebeten, mich gehen zu lassen.«
    »Das kann ich nicht. Hör mir zu! Wahrscheinlich wird die Anklage auf Tötung in Notwehr lauten. Darauf steht nur eine kurze Haftstrafe, die du als Ersttäter nicht einmal voll abzusitzen brauchst. Außerdem hast du Geld genug für einen guten Anwalt.
    Du wirst nicht für den Rest deines Lebens ins Gefängnis kommen.«
    »Aber ich trage für den Rest meines Lebens daran, dass ich meinen Bruder getötet habe.«
    »Es war Notwehr, es hätte ebenso gut umgekehrt ausgehen können.«
    Mikke schwieg, ich sah, dass er zur Sitzkiste hinunterging und sich neben das Heckruder setzte. Dann fragte er mit rauer Stimme:
    »Hast du schon mal jemanden getötet, im Dienst, meine ich?«
    »Nein, aber einmal hat nicht viel gefehlt. Ich hatte auf die Schusshand gezielt.«
    »Was ist passiert?«
    »Er ist auf einem Auge erblindet.«
    »War es Notwehr?«
    »Er oder ich. Wenn es sein müsste, würde ich es wieder tun.«
    »Und wenn der Mann gestorben wäre? Könntest du einfach so weiterleben, ohne Schuldgefühl?«
    »Das wohl nicht. Aber weiterleben könnte ich. Und du kannst es auch. Du musst dir verzeihen. Das Meer wird auf dich warten.«
    In diesem Tonfall redete ich auch auf Iida ein, wenn sie nachts von einem schlimmen Traum geweckt wurde. Vielleicht wirkten die Worte nur, wenn ich Mikke in den Armen wiegte, wie ich es mit Iida tat. Sollte ich zu ihm auf die »Leanda« gehen? Ich bat ihn, nicht aufzulegen, drückte auf die Pausentaste meines Handys und ging in die Kajüte, in der nun auch Koivu saß.
    »Sollen wir jemanden auf Sjöbergs Boot schicken?«, fragte ich Raitio.
    »Zu gefährlich.« – »Du gehst da nicht hin!«, riefen Koivu und Raitio gleichzeitig, und als Koivu meinen Arm umklammerte, wusste ich, dass ich nicht auf die »Leanda« gegangen wäre, selbst wenn man es mir befohlen hätte. Die Zeiten, in denen ich mein Leben unbedacht aufs Spiel gesetzt hatte, waren vorbei.
    Und das lag nicht nur an meiner Liebe zu Iida und Antti. Ich mochte nicht sterben, ich wollte leben.
    »Ich bleibe per Telefon mit ihm in Kontakt. Ein Sturmangriff ist sinnlos. Du versuchst Katrina Sjöberg zu erreichen«, wandte ich mich an Koivu. »Vielleicht kann sie ihren Sohn zur Vernunft bringen. Ich probiere mal, ob ich ihn überreden kann, die ›Espoo III‹ näher herankommen zu lassen.«
    Als ich wieder an Deck kam, hockte Mikke immer noch auf der Sitzkiste. Ich schaltete die Leitung frei und sagte, wir würden ein wenig näher kommen. Wortlos stellte er sich auf das Vorderdeck und knipste sein Feuerzeug an.
    »Lasst mich doch gehen!«, rief er verzweifelt.
    »Das tun wir nicht. Wirf das Feuerzeug ins Wasser!«, be-schwor ich ihn, während sich die »Espoo III« Zentimeter um Zentimeter an die »Leanda« heranschob. Mein Atem dampfte, doch ich spürte die Kälte nicht mehr.
    »Ich kann Frau Sjöberg nicht erreichen«, flüsterte Koivu mir zu. Mir wurde bewusst, dass ich ganz allein zwischen Mikke und dem Tod stand und völlig hilflos war. Eine kleine Flamme, nur einen Zentimeter lang, konnte meine Bemühungen innerhalb von Sekunden zunichte machen.
    Die »Espoo

Weitere Kostenlose Bücher