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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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ich mitzugehen. Ich zog den Mantel an und band mir den Schal um die Ohren. Das wäre allerdings nicht nötig gewesen, denn die im Osten aufragenden Felsen schützten das Ufer von Mattsboda vor dem Wind. Wie ein Greis, der still den Tod erwartet, lag das Meer da, als mache es sich bereit, in seinen eisigen Sarg zu sinken.
    »Die Familie Sjöberg-Merivaara hat seit Menschengedenken vom Meer gelebt«, sagte Katrina und trat ein wenig näher an den Rand der Klippe. »Das Meer ist für uns, was für euch Binnenländer der Wald ist. Man pflegt es, damit es den Lebens-unterhalt erbringt, nicht, weil es wertvoll an sich wäre. Das Meer ist Nahrungsquelle und Feind zugleich, und wenn du nicht vorsichtig bist, verschlingt es dich. An Juhas ökologisches Denken habe ich nie so ganz geglaubt. Anne und die Kinder nehmen die Sache ernst, zu ernst sogar, aber für Juha war Naturschutz eine Marketingstrategie. Als es Mode war, mit schnellen Motorbooten durch Eiderentenschwärme zu rasen, hat er den Yuppies das entsprechende Zubehör dafür verkauft.«
    Sie hob ein faustgroßes Stück Granit auf und warf es ins Meer.
    Das Wasser war so klar, dass man den Stein auf dem flachen Sandboden ausmachen konnte, nachdem sich die Oberfläche geglättet hatte.
    »Trotzdem kann ich mir selbst von Juha nur schwer vorstellen, dass er Harri kaltblütig ermordet hätte. Weißt du schon, wie es passiert ist?«
    Ich schüttelte den Kopf. Die Einzigen, die damals am Tatort gewesen waren, lebten nicht mehr. Wahrscheinlich hatte Juha seine Reise nach Tallinn vorgetäuscht und war im Schutz dieses Alibis nach Rödskär gefahren, um herauszufinden, wie viel Harri wusste. Der gutmütige Harri, der buchstäblich keiner Mücke etwas zu Leide tun konnte – darüber hatten wir uns auf einer Zeltwanderung einmal heftig gestritten –, hatte wahrscheinlich gar nicht begriffen, dass er sich in Lebensgefahr befand. Vielleicht war er nur abgerutscht, als er vor Juha davonlief, und der hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und Harri umkommen lassen, statt Hilfe zu holen.
    Das alles erzählte ich Katrina, die stumm über das Meer blickte. Ich hockte mich hin, zog die Handschuhe aus und steckte die Hand ins Wasser. Es war kälter als am letzten Wochenende in Inkoo, höchstens fünf Grad. Im Vergleich dazu fühlte sich der Granitfels seltsam warm an.
    »Welche Ironie des Schicksals, dass Jiri so einseitig ist wie sein Vater, nur in entgegengesetzter Richtung.« Katrina sprach langsam, nachdenklich. »Anne hat mich angerufen und mir von dem Feuer erzählt, sie hofft, das Erlebnis habe ihm einen solchen Schrecken eingejagt, dass er nicht mehr überall hin-rennt, wo er im Namen des Tierschutzes randalieren und Schaden anrichten kann. Allerdings glaube ich, dass er es ehrlich meint. Keiner würde aus bloßem Trotz so asketisch leben wie er. In gewisser Weise verstehe ich diese jungen Leute von der Revolution der Tiere. Die Welt ist verdreht und zu groß, kein Wunder, dass mancher versucht, sie nach seinen Vorstellungen zurechtzustutzen.«
    Ich gab keine Antwort, legte nur die Hand auf den Felsen.
    Zwanzig Meter weiter befand sich ein Bootssteg, und in der Bucht schwammen zwei Bojen, als warteten sie auf Fischerboo-te. Koste es, was es wolle, ich musste gleich morgen Taucher nach Rödskär schicken, und Interpol sollte aus Peders und Ramanauskas herausholen, was sie über die Fässer mit Tributylzinnlack wussten. Jiri zufolge waren die Litauer im vergangenen Sommer auf Rödskär gewesen. Vielleicht hatten sie Juha Merivaara geholfen, die giftige Farbe im Meer zu versenken.
    »Auf diesem Felsen haben die Frauen der Familie meiner Mutter auf ihre Männer gewartet. Die meisten kehrten zurück, aber nicht alle. Das Boot meines Onkels Daniel ist im Winter 1950 verschollen, nur einer der Männer wurde im nächsten Sommer angeschwemmt. Der Winter war so hart, dass auch hier das Meer zufror, und die Strömung unter dem Eis hat die Leichen der anderen davongetragen.«
    Katrina war lautlos hinter mich getreten, sie stand nur zentime-terweit entfernt. Ich spürte das Zittern ihrer Muskeln und verspürte den unbändigen Wunsch wegzulaufen. Sie kannte das Meer und die glatten Uferfelsen noch besser als Juha. Das Mattsboda-Ufer war von den Nachbarhäusern aus nicht zu sehen, man hörte nichts als das Summen des Windes. Ich drehte mich so abrupt um, dass Katrina erschrak und ausrutschte. Nur mein rascher Griff bewahrte sie davor, kopfüber ins Meer zu stürzen. Plötzlich erkannte

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