Der Wind über den Klippen
Chefs sind der Meinung, dass gegen gefährliche Anarchisten härter durchgegriffen werden muss«, sagte Mira kühl, ohne ihre eigene Meinung preiszugeben.
Auch ich gehörte ja zu den »Chefs«, aber sie wusste vermutlich, dass ich mit den Herren nicht immer einer Meinung war.
Ich wollte mich nicht für ein Lager und damit gleichzeitig gegen die andere Seite entscheiden. Ich war einzig und allein auf der Seite des frei wehenden Windes, auch wenn er mir gerade jetzt allzu scharf ins Gesicht blies.
»Warst du bei der Festnahme von Mikke Sjöberg in Suomenoja dabei?«
Mira verneinte, sie war während ihrer ganzen Schicht bei der Demonstration im Einsatz gewesen. Im Präsidium war es still, ich brachte den Mantel in mein Büro und legte die Papiere zum Fall Merivaara zusammen. Puustjärvi schaute herein und sagte, er werde als Zeuge an der Vernehmung teilnehmen. Ich ließ Mikke Sjöberg aus der Arrestzelle in den Vernehmungsraum zwei bringen. Im Waschraum legte ich Puder auf und schminkte mich hart und aggressiv. Ich versprach mir eine halbe Flasche Laphroaig, wenn ich diesen Abend überstand.
»Ist der Fall aufgeklärt?«, fragte Puustjärvi auf dem Weg zum Vernehmungsraum.
»Vielleicht. Mal sehen, was wir aus Sjöberg herausholen.«
Mikke wartete im Vernehmungsraum und erhob sich bei unserem Eintreten wie ein Schuljunge. Es schien, als trüge er eine blasse, starre Maske, die auch die Augen verdeckte. Er gab mir die Hand, ohne meinen Blick zu erwidern. Statt auf das Sofa setzte er sich mir gegenüber an den Tisch. Puustjärvi ließ sich erfreut auf dem Sofa nieder.
»Möchtest du etwas trinken? Kaffee, Tee, Limonade?«, fragte ich, bevor ich mich setzte. Mikke winkte ab. Er trug denselben grauen Pullover wie auf unserem Segeltörn, schien aber trotzdem zu frieren.
»Bei der Festnahme hat man dich sicher darauf hingewiesen, dass du das Recht auf juristischen Beistand hast. Möchtest du jemanden kontaktieren? Wir können den Beginn der Vernehmung aufschieben, bis dein Anwalt eintrifft.«
»Danke, aber ich möchte keinen.«
»Du bist zur Vernehmung vorgeführt worden unter dem Verdacht, in der Nacht vom vierten zum fünften Oktober dieses Jahres deinen Stiefbruder Juha Merivaara getötet zu haben. Bei einer früheren Vernehmung hast du deine Schuld bestritten und behauptet, du hättest geschlafen, bis du die Leiche deines Bruders gefunden hast. Möchtest du deine Aussage ändern?«
Mikkes Backenmuskeln zuckten, er sagte nichts, nickte jedoch. Ich drängte ihn nicht, obwohl es einige Minuten dauerte, bis er die richtigen Worte fand.
»Ich wusste, dass ihr eines Tages kommt. Als wir auf Rödskär waren und du mich gezwungen hast vorzuführen, wie ich auf Juhas Leiche gefallen bin, wäre ich in der Nacht darauf beinahe geflohen. Wahrscheinlich hätte ich gleich nach der Tat verschwinden sollen oder sofort zugeben, dass ich Juha umgebracht habe.«
»Auf lange Sicht wärst du nicht entkommen.«
»Doch. Ich hatte nicht die Absicht, mich irgendwo in Südame-rika zu verstecken, sondern die ›Leanda‹ in einen Sturm zu steuern und mit ihr unterzugehen. Ich ertrage es nicht, damit leben zu müssen, dass ich meinen Bruder getötet habe.«
Mikke stützte den Kopf auf die Hände, seine Fingerknöchel waren weiß. Über den schmalen Tisch hinweg hätte ich ihn mühelos berühren können.
»Natürlich hätte ich ein Geständnis abgelegt, wenn ihr jemand anderen verhaftet hättet. Aber ich habe gehofft, ihr könntet nicht beweisen, dass Juhas Tod kein Unfall war.«
»Wie ist es passiert? Sag es mir, vielleicht ist das eine Erleichterung.«
Er hob den Kopf, sein Blick streifte an mir vorbei auf die leere, weiße Wand.
»Du weißt, dass Juha Harri getötet hat.«
»Ja, zu dem Schluss bin ich gekommen. Wie hast du es herausgefunden?«
Mikke hatte im Sommer die Dateien über Tributylzinn auf Harris Computer gefunden und Verdacht geschöpft. Er hatte die Ereignisse rekonstruiert, die Harris Tod vorausgegangen waren.
Seija hatte ihm von der toten Eiderente erzählt, Katrina von Harris Anruf. Über den dementen Mikael Enckell war er mühelos an die Papiere der Merivaara AG herangekommen, denn der Onkel hatte längst vergessen, dass sein Neffe kein Teilhaber mehr war.
Der Anteil der Mare Nostrum an der ganzen Geschichte war fast ein Witz. Juha war die Firma nicht so leicht losgeworden, wie er gehofft hatte, da sein scharfsichtiger Finanzdirektor auf die nicht ausgezahlten Dividenden aufmerksam geworden war.
Die Mare
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