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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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erraten war. Pertti Ström hatte schon seit längerem behauptet, ich hätte über das Bett des ehemaligen Dezernatsleiters Karriere gemacht. Tatsächlich knisterte es zwischen uns, doch es blieb bei harmlosen Gesten, ich zog ihm die Krawatte gerade, er strich mir ein trockenes Blatt aus den Haaren. Schon das wirkte wie ein Energiestoß.
    Auch Anttis Tagesablauf hatte sich eingespielt. Iida schlief tagsüber nur noch einmal, dafür aber fast drei Stunden lang, sodass er Zeit hatte, sich in seine Forschungen oder in die Texte seiner Lieblingsdichter zu vertiefen. Wenn Iida wach war, spielte er oft Klavier, und einmal in der Woche ging er mit ihr nach Olari zur Musikgruppe. Er schien mit seinem Leben vollauf zufrieden zu sein:
    »Die Kleine macht sich nicht wichtig, wie meine Kollegen an der Uni. Es ist erfrischend, den ganzen Tag mit einem derart offenen Menschen zusammen zu sein.«
    Der 4. Oktober war ein Samstag. Am Morgen überlegte ich, wieso mir das Datum so bekannt vorkam, dann fiel es mir ein: Heute vor einem Jahr war Harri gestorben.
    Ich war den ganzen Tag sprungbereit, denn ich hatte Kommis-sarsdienst für die gesamte Kripo, was bedeutete, dass ich bei Bedarf Haftbefehle bestätigen oder aufs Präsidium fahren musste, um bei dringlichen Fällen die Ermittlungen zu organisieren. Während der Nacht kamen einige Anrufe, es ging aber nur um die üblichen Kneipenschlägereien und Auseinandersetzungen zwischen Betrunkenen. Ich hatte das Handy mitgenommen und schlief im Erdgeschoss, um Antti und Iida nicht zu wecken. Weil ich im Bereitschaftsdienst mitten in der Nacht weggerufen werden konnte, ohne zu wissen, wann ich zurückkam, hatte ich ein paar Wochen zuvor endgültig abge-stillt. Es war ein wehmütiges Gefühl gewesen, aber Iida war ja kein Säugling mehr, sie konnte bereits laufen und sprach auch schon einige Worte, die üblichen: Mama und Kacka.
    Der Morgen des 5. Oktober war grau und nieselig. Um halb acht wurde ich vom Telefon geweckt. Puustjärvis Stimme verriet, dass er eine durchwachte Nacht hinter sich hatte:
    »Auf Rödskär ist eine Leiche gefunden worden.«
    Schlief ich noch, träumte ich von Harris Tod vor einem Jahr?
    Nein, das war kein Traum. Der Schlaf wurde davongeweht wie Blütenstaub von einer Weide.
    »Konnte der Tote identifiziert werden?«
    »Ja. Ein gewisser Juha Merivaara, geboren 1951, von Beruf Geschäftsführer.«
    Ich überlegte eine Sekunde lang.
    »Ist schon jemand zum Fundort unterwegs?«
    »Ich warte mit Koivu und dem Fotografen auf den Hubschrau-berpiloten. Die Technik fährt mit dem Boot hin.«
    »Wartet auf mich! Ich komme mit in den Hubschrauber, in einer Viertelstunde bin ich da.«
    Ich legte auf, rannte in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Vierzehneinhalb Minuten später hatte ich es geschafft, mich zu waschen, anzuziehen, zwei Tassen Kaffee hinunterzustürzen und ein Käsebrot zu essen, mit weit überhöhter Geschwindigkeit zum Präsidium zu fahren, den Wagen abzustellen und zum Landeplatz auf dem Dach zu rennen.
    Seit den Übungsflügen während der Ausbildung hatte ich nicht mehr in einem Helikopter gesessen. Ich hatte zwar keine Angst vor dem Fliegen, doch im Magen rumorte es, als der Hubschrauber aufstieg und über Mankkaa und Haukilahti nach Südwesten flog. Bei dem Nieselregen hatte man kaum Sicht auf das Meer, die Kopfhörer dämpften den Lärm nicht. Ich atmete ein paar Mal tief durch und fragte Puustjärvi, wie die Meldung aus Rödskär gelautet hatte.
    »Der Anrufer hat nicht viel gesagt. Am Ufer läge eine Män-nerleiche, aber es sähe nicht so aus, als wäre er ertrunken!«, brüllte Puustjärvi ins Mikrophon.
    »Wer war der Anrufer?«
    »Ein gewisser Tapio Holma.«
    Tapio Holma, soso. Demnach war vermutlich der ganze Merivaara-Clan auf der Insel, vielleicht auch Mikke Sjöberg. Ich spürte einen unangenehmen Druck im Magen, als der Hubschrauber schlingerte und ein paar Meter absackte.
    Durch den Nebel hindurch betrachtete ich die immer spärlicher werdenden Schären und das graublaue, gischtende Meer. Wir überflogen die Inseln Pentala und Stora Herrö, und bald darauf entdeckte ich ein Licht am Horizont. Das Leuchtfeuer von Rödskär durchdrang den Nebel. Erst aus hundert Meter Höhe sah ich, dass dieselben Boote im Hafen lagen wie im August, die luxuriöse Motoryacht und Mikke Sjöbergs Segelboot.
    Der Westwind schüttelte die Erlen, die zwanzig Quadratmeter große Rasenfläche reichte nur knapp zum Landen. Der Lärm hatte eine kleine Gruppe an

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