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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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Hörweite war.
    »Glitschig ist es hier zwar, aber man sollte meinen, dass Merivaara sich in Acht genommen hätte. Die Kopfwunde kommt mir eigenartig vor. Bei einem Sturz müsste man doch mit dem Hinterkopf aufschlagen, nicht mit der Schläfe. Das Gesicht scheint auch verletzt zu sein.«
    Ich streifte Schutzhandschuhe über und hob Juha Merivaaras Kopf vorsichtig an. Das Gesicht war blutig, die Nase gebrochen.
    Auf dem Stein, auf den Mikke seinen Bruder gelegt hatte, lag Hirnmasse. Konnten solche Verletzungen entstehen, wenn jemand vom Felsen abrutschte? Im Allgemeinen landete man doch auf dem Rücken, wie Harri. Oder waren die Wunden im Gesicht erst entstanden, als die Leiche im Wasser trieb? Aber nach dem Tod trat kein Blut mehr aus. Um im Wasser zu landen, musste Juha aus großer Höhe abgestürzt sein. Zum Glück herrschte Westwind, sonst wäre die Leiche aufs Meer hinausgetrieben.
    Dass zwei Männer im Abstand von exakt einem Jahr unter denselben Umständen auf derselben Insel ums Leben kamen, konnte kein Zufall sein.
    Ich fühlte mich allmählich klamm, denn obwohl der Regen nicht besonders heftig war, betrug die Luftfeuchtigkeit sicher an die hundert Prozent. Daher schlug ich Koivu vor, ins Haus zu gehen. Der Fotograf blieb zurück und machte seine grausigen Aufnahmen. Puustjärvi hatte die kleine Gesellschaft in die Küche gebeten, die im Licht der Sturmlampen anheimelnd wirkte. Die dunkelhaarige Frau stand am Herd und kochte Tee.
    »Mein Beileid«, sagte ich in die Runde, erhielt jedoch nur undeutliches Gemurmel zur Antwort.
    »Zwei Frauen sind im Schlafzimmer geblieben«, berichtete Puustjärvi verlegen.
    »Namen?«
    »Es ist meine Mutter, und Mikkes Mutter ist bei ihr, um sie zu trösten«, fuhr Riikka auf. »Das ist alles zu viel für sie, erst Harri und genau ein Jahr später Vater … Als wäre diese Insel irgendwie …«
    »Verhext«, sagte Seija Saarela und stellte die Teekanne auf den Tisch. »Auf dieser Insel sind negative Energiefelder, die sich schon lange vor dem Krimkrieg in die Felsen eingegraben haben.«
    »Seija, hör auf damit«, stöhnte Mikke und legte ihr die Hand auf den Arm.
    »Ich möchte gern kurz mit jedem von euch sprechen. Riikka, glaubst du, deine Mutter ist ansprechbar?«
    »Sieh doch selbst nach!«
    Ich ließ die anderen beim Tee zurück und klopfte an die Tür, auf die Riikka gezeigt hatte.
    » Stig in « , sagte eine Frauenstimme, die nicht Anne Merivaara gehörte. Ich betrat ein hübsch eingerichtetes Zimmer, offenbar für den Privatgebrauch der Merivaaras reserviert. Anne Merivaara lag seitlich auf dem ungemachten Doppelbett, neben ihr saß eine etwa sechzigjährige, kleine und sehnige, braun gebrannte Frau, deren dichter Pagenkopf eine in Finnland ungewöhnliche stahlgraue Farbe hatte.
    »Guten Tag, ich bin Hauptkommissarin Maria Kallio von der Polizei Espoo«, sagte ich und überlegte dabei, ob ich statt Finnisch besser Schwedisch sprechen sollte. Anne Merivaara setzte sich auf und rief:
    »Zum Glück bist du es! Jetzt kommt sicher alles in Ordnung.«
    Sie machte Anstalten, aufzustehen, aber die Stahlgraue fasste sie an der Schulter.
    »Anne, nur langsam! Du brauchst nirgendwo hinzugehen.«
    Ihr Finnisch hatte einen schwedischen Akzent, der jedoch anders klang als der, den man in Espoo hörte. Sie reichte mir ihre schmale, kräftige Hand:
    »Katrina Sjöberg, die Stiefmutter des Verstorbenen.«
    Ihr Händedruck war kühl und fest, ähnlich wie der ihres Sohnes Mikke. Auch ihre Augen hatten dieselbe unbestimmte, meerblaue Farbe, die sich je nach der Beleuchtung veränderte.
    »Wenn es möglich ist, würde ich gern einige Fragen stellen, zum Beispiel, wann Juha Merivaara zuletzt lebend gesehen wurde.«
    »Mir macht es nichts aus«, sagte Katrina Sjöberg, »aber ist es wirklich nötig, Anne schon jetzt zu vernehmen? Wir anderen wissen genauso viel wie sie. Anne ist als Erste schlafen gegangen, schon um elf. Sie weiß nicht, ob Juha sich zu Bett gelegt hat, sie wurde erst wach, als Mikke kam und sagte, Juha sei tot.«
    Ich wunderte mich, dass Katrina Sjöberg ihre Stiefschwieger-tochter so bemutterte, Anne hatte auf mich einen vernünftigen und selbständigen Eindruck gemacht.
    »Ich halte schon durch, wenn wir hier reden können. Katrina muss das Zimmer wohl so lange verlassen?«
    Ich nickte. Wir wussten noch nicht, ob wir es mit einem Tö-
    tungsdelikt oder einem Unfall zu tun hatten.
    Von draußen drang das Tuckern eines Motors herein, das Boot der Techniker war

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