Der Wind über den Klippen
eingetroffen. Ich wünschte mir, die Leute von der Spurensicherung würden auf den ersten Blick feststellen, dass Juha Merivaara auf den Felsen gestolpert und abgestürzt war und alle Anwesenden würden aussagen, er sei stockbetrun-ken gewesen, was den Unfall erklären würde. Dabei wusste ich, dass die Techniker keinesfalls zu einer derartigen Schnellanaly-se fähig waren, sondern dass die Todesursache wochenlang, vielleicht sogar für immer, ungewiss bleiben konnte.
Das Motorengeräusch verstummte, ich sah wieder zu Anne Merivaara hin.
»Warum seid ihr nach Rödskär gekommen? Das Wetter ist ja nicht gerade verlockend.«
Zu meiner Überraschung lächelte sie beinahe.
»Um meinen Geburtstag zu feiern, er war gestern. Deshalb waren Juha und ich auch letztes Jahr hier gewesen, aber da haben wir Harri gefunden. Das war ein schwerer Schock, ich hatte seitdem Angst vor meinem Geburtstag. Juha meinte, es sei das beste Mittel gegen die Furcht, gerade an diesem Tag herzukommen. Und jetzt das …«
Ihre Stimme war tonlos, mit leerem Blick starrte sie zum Fenster hinaus.
»Was Katrina gesagt hat, stimmt. Ich war müde und beklom-men, deshalb bin ich schon um elf schlafen gegangen und habe zwei Schlaftabletten genommen, um die Nacht ohne Alpträume zu überstehen. Als Mikke mich weckte, glaubte ich zuerst, es wäre ein Traum.«
Ihre Stimme brach, und ich hatte nicht das Herz, sie weiter zu bedrängen. »Das reicht fürs Erste. Ruh dich ein wenig aus. Und falls du Unterstützung brauchst: Ich habe eine Broschüre über verschiedene Krisenhilfen dabei.«
Ich holte das Heftchen aus der Tasche und fragte Anne, ob ich jemanden zu ihr schicken sollte, damit sie nicht ganz allein war.
Es würde sicher noch eine Stunde dauern, bevor das Grüppchen die Insel verlassen konnte.
»Vor dem Alleinsein habe ich keine Angst. Ich brauche mich überhaupt nicht mehr zu fürchten, denn schlimmer kann es nicht kommen«, murmelte sie tonlos.
»Mein Beileid«, sagte ich unbeholfen, schloss leise die Tür und kehrte in die Küche zurück, wo eine apathische Stimmung herrschte. Jiri hatte die Hände um seine Teetasse gelegt, als könnte sie ihm Kraft geben, Mikke stand am Fenster und sah hinaus. Tapio Holma hatte einen Arm schützend um Riikka gelegt.
»Wie ist Vater gestorben?«, fragte Riikka. »Warum erzählt uns keiner etwas?«
»Ich habe dir doch erklärt, dass er abgestürzt ist«, sagte Tapio leise.
»Abgestürzt! Und warum ist die Polizei hier?«
»Komm du als Erste mit mir, Riikka«, sagte ich und hoffte, sie würde als freundliche Geste auffassen, was ich aus purer Berechnung tat. So aufgeregt, wie sie war, bestand die Chance, aus ihr eher etwas herauszuholen als aus den anderen. Natürlich war mir klar, dass alle vor unserer Ankunft Zeit genug gehabt hatten, ihre Aussagen abzusprechen.
Wir gingen in das Zimmer, in dem ich vor sechs Wochen mit Iida und Antti übernachtet hatte. Das Meer, das damals blau in der Sonne glitzerte, war nun grau und aufgewühlt. Die Betten waren ordentlich gemacht, aber in der Ecke standen ein Koffer und ein Rucksack, auf dem Tisch lagen zwei Bücher neben Tiegeln mit Naturkosmetik.
»Nun erzähl mir mal, warum ihr das Wochenende hier verbringen wolltet.«
»Gestern hatte Mutter Geburtstag, und Vater wollte, dass wir ihn hier feiern. Jiri hatte eigentlich keine Lust, aber Vater hat ihn überredet mitzufahren, wahrscheinlich hat er ihn mit der Geldbuße unter Druck gesetzt. Tapsa ist natürlich auch mitge-kommen, er gehört ja schon zur Familie. Mikke wollte von hier aus nach Föglö segeln, seine Mutter dort absetzen und dann gleich weiter in den Süden schippern.«
Wo Föglö lag, wusste ich nicht, doch das ließ sich feststellen.
Ich erinnerte mich, dass Mikke im August erzählt hatte, er wolle in diesem Winter über Madeira nach Afrika segeln.
»Wer ist Seija Saarela?«
»Mikkes Freundin und eigentlich auch Mutters. Sie ist wohl hauptsächlich mitgefahren, um sich von Mikke zu verabschieden.«
Das klang interessant, aber ich fragte nicht weiter nach, sondern ging zu den Ereignissen des Vortags über. Die Merivaaras und Tapio Holma waren gegen Mittag mit dem Motorboot eingetroffen, die Sjöbergs und Seija Saarela auf der »Leanda«
gegen drei Uhr. Nach der Ankunft der Segler hatten sie Tee getrunken und bereits kurz nach fünf mit der Vorbereitung des Abendessens begonnen, während die ersten Inselgäste in die Sauna gingen. Gegen acht hatten sich dann alle zum Festessen in der Küche
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