Der Wind über den Klippen
versammelt.
»Vater hat eine Rede gehalten, obwohl der Fünfundvierzigste ja eigentlich kein runder Geburtstag ist. Wir haben getrunken und gegessen, Mutter, Jiri, Seija und ich wie immer vegetarisch, die anderen gegrillte Maränen. Dann gab es Johannisbrotkuchen mit Tofuschaum. Gegen elf hat Mutter angefangen zu gähnen und ist schlafen gegangen. Um die Zeit hat sich wohl auch Jiri verdrückt. Er war schlecht gelaunt, wie immer bei Familienfes-ten.«
Ich fragte sie nach der Zimmerverteilung und erfuhr, dass Anne und Juha Merivaara in dem Zimmer geschlafen hatten, in dem ich gerade mit Anne gesprochen hatte. In dem Raum, in dem wir jetzt saßen, waren Seija und Katrina untergebracht gewesen, während Mikke und Jiri sich das Nachbarzimmer geteilt und Tapsa und Riikka im Ostzimmer geschlafen hatten.
Mehr Räume gab es auf Rödskär vorläufig nicht, da der nordöstliche Teil der Festung noch nicht renoviert war.
»Mehr weiß ich nicht, denn Tapsa und ich sind als nächste schlafen gegangen, kurz nach Mitternacht.«
»Wie viel hat dein Vater getrunken?«
Riikka überlegte.
»Ein paar Schnäpse, zum Essen Wein und zum Kuchen Whisky, so viel wie immer. Er ist so groß, er kann viel vertragen.«
Sie runzelte die Stirn, als sie merkte, dass sie die falsche Zeitform verwendet hatte. Der Tränenstrom, den ich erwartet hatte, blieb jedoch aus.
Zum Schluss fragte ich, ob im Lauf des Abends etwas Besonderes vorgefallen sei. Riikka verneinte und stand auf, sagte dann aber:
»Ab und zu kam es mir so vor, als wäre nicht alles, wie es sein sollte. Sie waren irgendwie angespannt. Vater, Mutter und sogar Mikke, obwohl sie sich Mühe gaben, Feststimmung vorzutäuschen.«
Offenbar war nicht darüber gesprochen worden, dass Harris Tod genau ein Jahr zurücklag. Aber konnte Riikka das Datum wirklich vergessen haben? Es war immerhin am Geburtstag ihrer Mutter passiert.
Als Nächsten bat ich Tapio Holma herein. Er blieb an der Tür stehen, umarmte Riikka und sagte zu ihr:
»Deine Mutter möchte dich sprechen.«
Holma erzählte dasselbe wie Riikka, war allerdings der Meinung, der Abend sei sehr nett verlaufen und alle hätten fröhlich gewirkt.
»Abgesehen von Jiris üblichem Gemecker, die Fische, die es zum Essen gab, wären unsere Brüder. Der Junge versteht es wirklich nicht, das Leben zu genießen.«
Nach ihm war Seija Saarela an der Reihe. Sie sagte, sie sei neunundvierzig, arbeitslose Bauzeichnerin und lebe im Espooer Stadtteil Kivenlahti. Mit ihrem weiten, violetten Batikkleid, den zum Knoten aufgesteckten, an den Schläfen ergrauten Haaren, den großen Ohrringen und den Natursteinringen, die fast jeden Finger schmückten, hätte sie eher auf eine Esoterikmesse gepasst als auf eine Festungsinsel. Nach ihrem Gerede über negative Energien hatte ich sie als überspannte Mystikerin eingestuft, doch sie wirkte vernünftig und in Anbetracht der Umstände recht gefasst.
»Juha war angetrunken, aber das waren wir alle«, sagte sie.
»Es war mindestens eins, als ich schlafen ging, zur gleichen Zeit wie Katrina. Mikke wollte noch ein Buch von seinem Boot holen. Soweit ich weiß, hatte auch Juha vor, schlafen zu gehen, aber ich habe nicht weiter darauf geachtet, was er tat. Ehrlich gesagt, mochte ich ihn nicht besonders.«
»Warum nicht?«
»Er hatte natürlich auch seine guten Seiten, sein Interesse für das Meer und den Umweltschutz war echt, aber auch dabei dachte er immer an Geld. Verständlich, wenn man bedenkt, dass er von klein auf zum Erben und Direktor der Merivaara AG
erzogen wurde. Insofern ist es bewundernswert, dass er die Unternehmensstrategie radikal verändert hat und auf ökologische Produkte umgestiegen ist. Aber im Kern war und blieb er ein reicher Protz.«
Ich nickte, denn ich hatte einen ähnlichen Eindruck gewonnen.
Dann fragte ich Seija Saarela nach ihrer Beziehung zu der Familie Merivaara.
»Ich bin nur als Mikkes Begleiterin hier.« Sie errötete leicht.
»Ich habe ihn vor einigen Jahren kennen gelernt, das muss einundneunzig gewesen sein, ich war gerade arbeitslos geworden, weil die Baufirma, wo ich angestellt war, Konkurs gemacht hatte. Damals habe ich mir vorgenommen, nicht untätig zu Hause herumzusitzen, sondern etwas Neues zu lernen. Also habe ich an der Volkshochschule einen Küstenschifferlehrgang belegt, obwohl ich bis dahin keinen Schimmer von der Seefahrt hatte. Mikke war unser Lehrer, und irgendwie haben wir uns näher kennen gelernt …«
»Heißt das, Sie haben ein Verhältnis
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