Der Wind über den Klippen
bei den Opernfestspielen in Savonlinna gesehen.
Es war kurz vor eins. Ich legte Puder auf und ging zur Sitzung der Dezernatsleiter, in dem unangenehmen Bewusstsein, dass unsere Abteilung ein schweres Kapitalverbrechen aufzuklären hatte.
Die Arbeitsteilung im Präsidium war in den letzten Jahren immer wieder verändert worden. Seit Anfang des Jahres war uns der Notdienst für den westlichen Teil der Provinz Uusimaa übertragen worden, was zusätzliche Arbeit brachte und eine Reorganisation erforderte. Während unser Dezernat früher auch für die Berufs- und Gewohnheitskriminalität, kurz Begeka, zuständig gewesen war, gab es dafür seit Anfang des Jahres ein eigenes Dezernat. An der Besprechung nahmen außer mir die Leiter der Dezernate Gewalt zwei, Begeka, Wirtschaftskriminalität, Drogen, Raub und Verkehr teil. Den Vorsitz führte unser ehemaliger Dezernatsleiter Jyrki Taskinen, der vor einem Jahr zum Kripochef befördert worden war. Wie so oft war ich die einzige Frau in der Runde. Zum Glück gab es im Präsidium mittlerweile noch eine zweite Frau in höherer Position, eine Pressesprecherin im Kommissarsrang.
Die Vertreter der einzelnen Dezernate konnten sich zwar jeden Morgen beim Kaffee im Obergeschoss treffen, doch ich hatte selten Zeit dazu. Die wöchentlichen Besprechungen waren notwendig, denn Drogenmissbrauch, Raub, Gewalt und Gewohnheitskriminalität hingen oft eng miteinander zusammen.
Im Sommer hatte sich der Chef der staatlichen Sicherheitspolizei besorgt über die Zunahme rassistisch motivierter Konflikte und über den Aufschwung radikaler Bewegungen geäußert.
Diese Themen waren auch in unseren Sitzungen immer wieder zur Sprache gekommen. Daher überraschte es mich nicht, als der diensteifrige Kommissar Laine, der von der Sicherheitspolizei als Chef des Begeka-Dezernats zu uns gewechselt hatte, meinen Bericht über den Fall Juha Merivaara kommentierte:
»Habt ihr Merivaaras Sohn unter die Lupe genommen? Die radikalen Umweltschützer werden immer gewalttätiger. Vielleicht hat der Junior seinen Vater aus dem Verkehr gezogen?«
»Völlig unlogisch«, wandte ich ein. »Ich habe mir gerade die Homepage der Merivaara AG angesehen, umweltbewusster geht’s nicht mehr!«
»Diese Nachwuchsanarchisten handeln eben nicht logisch. Die Typen von der Revolution der Tiere betrachten gerade die liberalen Umweltschützer, etwa unseren grünen Umweltminis-ter, als ihre schlimmsten Feinde, weil sie ihrer Meinung nach durch ihre Kompromisslösungen die Umweltbewegung verwässern«, dozierte der Begeka-Kommissar.
»Ein siebzehnjähriger Junge tötet seinen Vater wegen ideologischer Differenzen? Schwer zu glauben«, hielt ich dagegen, erinnerte mich jedoch im selben Moment an die Vermutung des Pathologen, Juha Merivaara sei durch einen Schlag auf den Kopf ums Leben gekommen. Gut möglich, dass Jiri sich mit seinem Vater geprügelt hatte. Aber warum mitten in der Nacht, warum auf den Felsen?
Ich blieb mit meinen Gedanken bei den Merivaaras, während es bei der Besprechung längst um andere Themen ging. Das Rauschgiftdezernat war völlig überlastet, denn vor einigen Wochen war ein marokkanischer Drogenring, der sich in Kirkkonummi eingenistet hatte, aufgeflogen, und durch die Vernehmungen war man mehreren Unterorganisationen in verschiedenen Teilen der Hauptstadtregion auf die Spur gekommen. Die Boulevardzeitungen hatten große Schlagzeilen über die ausländischen Drogenhändler gebracht, was den Espooer Skinheads einen hübschen Vorwand lieferte, einen jungen Iraner zusammenzuschlagen. Auch einer von Ströms Fällen, dachte ich verärgert.
»Hast du morgen Zeit für unser Mittagessen?«, fragte Taskinen, als die Sitzung endlich zu Ende ging.
»Ich weiß noch nicht. Hoffentlich. Ich ruf dich morgen Vormittag an.«
Ich stand gerade vor der Tür zu meinem Büro, als das Handy klingelte.
»Wir sind hier bei den Merivaaras, Puustjärvi hat eben mit den Technikern die Kleider geholt. Das hat ziemlichen Ärger gegeben«, sprudelte Koivu aufgeregt hervor.
Jiri, der heute nicht zur Schule gegangen war, hatte sich geweigert, der Polizei seine einzigen anständigen Kleidungsstücke, einen grünen Parka vom Flohmarkt, Chinos und Tennisschuhe, auszuhändigen. Riikka und Tapsa hatten minutenlang auf ihn eingeredet, bis er schließlich nachgab. Anne Merivaara war überraschenderweise nicht im Haus, sondern in der Firma, aber Riikka hatte den Technikern die Sachen mitgegeben, die ihre Mutter auf Rödskär getragen
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