Der Wind über den Klippen
blieb das einzige Kind, denn bald nach seiner Geburt erkrankte Fredrika an Leukämie.
Sie starb 1959, und der achtjährige Juha erbte von seiner Mutter die Hälfte der Firmenaktien. Martti verwaltete Juhas Eigentum, musste jedoch auf Verlangen der Nachlassverwalter sorgfältiger wirtschaften als bisher. So blühte das Unternehmen in den sechziger Jahren, als der allgemeine Lebensstandard stieg, fast zwangsläufig auf.
Sowohl Mikael als auch Martti Merivaara wirkten auf den Bildern steif und halsstarrig, wie Männer, die keinen Widerspruch duldeten. Ob demnächst auch Juhas Porträt mit den entsprechenden Jahreszahlen hier hängen würde?
Im Bücherregal standen weitere Ordner, Modelle von Segel-schiffen und einige Pokale. Ich nahm einen davon in die Hand.
Erster Preis in der Sechserklasse bei der Hanko-Regatta 1978.
Juha Merivaara hatte also an Segelregatten teilgenommen, im Gegensatz zu Mikke, der sich nichts aus Wettkämpfen machte, sondern zum Spaß segelte.
Zwischen den Ordnern standen Vogelbücher, englischsprachi-ge Werke über die Seefahrt und Herman Melvilles »Moby Dick«. Die Frau, die aus dem dekorativen Bilderrahmen im Regal lächelte, kannte ich nicht, doch aus der Frisur und dem Kragen im Stil der frühen fünfziger Jahre schloss ich, dass es sich um Fredrika Merivaara handelte. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Riikka: ein energisches Kinn, einen langen Hals und dichte Augenbrauen. Juha hatte weder seinem Vater noch seiner Mutter besonders ähnlich gesehen.
»Ist auf dem PC irgendwas Persönliches?«, fragte ich Kantelinen.
»Nein, aber ich habe mir die Disketten noch nicht genau angesehen. Was suchst du denn, Briefe an eine Geliebte?«
»Zum Beispiel. Persönliche Aufzeichnungen, ich will wissen, was für ein Mensch Juha Merivaara war.«
Ich erinnerte mich an unsere kurze Begegnung auf Rödskär, an die Abneigung, die sein Ausdruck »kleine Mutti« bei mir ausgelöst hatte. Die rücksichtslose Kraft und Maskulinität, die er ausgestrahlt hatte, schien nicht recht zu seinem Engagement für den Naturschutz zu passen. Aber vielleicht hatte er die Natur als eine Art schwaches weibliches Wesen betrachtet, dessen Jungfräulichkeit es zu verteidigen galt, damit Menschen, die sich ihr in lauterer Absicht näherten, ihre Reize genießen konnten.
Es klopfte, und Paula Saarnio trat ein. Sie war tatsächlich groß für eine Frau, mindestens eins achtzig, und ging zudem auf sieben Zentimeter hohen Absätzen. Das kurze schwarze Haar hatte sie zu einer runden Helmfrisur geföhnt, das streng geschnittene Nadelstreifenkostüm betonte ihre breiten Schultern und die schmalen Hüften. Sie mochte Anfang dreißig sein. An der linken Hand trug sie zwei schmale Diamantringe, an den Ohren kleine Diamantstecker. Die Lippen hatte sie tiefbraun nachgezogen, das übrige Make-up war dezenter.
»Jetzt hätte ich Zeit, Ihre Fragen zu beantworten«, sagte sie mit tiefer, melodiöser Stimme, die am Telefon sicher angenehm klang.
Ich folgte ihr in ihr Büro, setzte mich und nahm den Notiz-block aus der Tasche.
»Wie lange arbeiten Sie schon für die Merivaara AG?«
»Etwa fünf Jahre, seit meine Vorgängerin, die schon unter Juhas Vater im Haus war, pensioniert wurde.«
»Fühlen Sie sich wohl hier?«
»Sehr.« Paula Saarnio setzte sich auf ihren Bürostuhl, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände über den Knien. Ihr Nagellack hatte die gleiche Farbe wie der Lippenstift.
»Wie war Juha Merivaara als Vorgesetzter?«
»Anspruchsvoll, aber sehr rational und konsequent. Er hat immer klipp und klar gesagt, was er wollte.«
»Sie sind also gut miteinander ausgekommen? In welchem Verhältnis standen Sie zu ihm?«
»Verhältnis?« Ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel, die schokoladenbraunen Augen sahen mich offen an. »Sie meinen sicher, ob es noch ein anderes Verhältnis gab als das berufliche.
Die Antwort ist Nein. Gewiss, Juha hat es versucht, er war einer der Männer, die es geradezu für ihre Pflicht halten, bei jeder Frau ihre Anziehungskraft zu testen. Er hat mein Nein aber sofort respektiert.«
Ich nickte und fragte, ob Juha Merivaara andere Affären gehabt hatte.
»Dass er eine feste Geliebte hatte, glaube ich nicht. Dagegen hat er offenbar einigen Geschäftspartnern Hostessen spendiert.
Ab und zu musste ich in einschlägigen Lokalen einen Tisch reservieren.« Abschätzig verzog sie den Mund.
»Wusste Frau Merivaara davon?«
Ihre Miene verfinsterte sich.
»Ich finde es
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