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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Nicholson
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immer wieder. 
    Bowman setzte sich neben die beiden und wartete darauf, dass seine Schwester sich beruhigte. Zitternd wollte er sich ebenfalls an seinen Vater schmiegen. Er rückte näher und lehnte den Kopf gegen den rauen Wollärmel seines Vaters. Papa kann uns nicht helfen, dachte er. Er möchte es zwar, aber er kann es nicht. So klar und simpel hatte er das noch nie zuvor gedacht. Er vertraute seinen Gedanken Kestrel an. Papa kann uns nicht helfen. 
    Ich weiß. Aber er liebt uns, antwortete Kestrel ihm. 
    Dann auf einmal spürten sie beide, wie sehr sie ihren Vater liebten, und fingen beide gleichzeitig an seine Ohren, seine Augen und seine kratzigen Wangen zu küssen. 
    »So ist es besser«, sagte er. »Das sind meine fröhlichen Vögelchen.« 
    Schweigend gingen die drei Arm in Arm nach Hause und niemand belästigte sie. Ira Hath erwartete sie schon mit Pinpin auf dem Arm und sie berichteten ihr kurz, was vorgefallen war. 
    »Oh, wie gern hätte ich dich gehört!«, rief Ira. 
    Die Eltern machten Kestrel keine Vorwürfe und sagten ihr nicht, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Doch ihnen allen war klar, dass sie mit einer schweren Strafe rechnen mussten. 
    »Es wird schlimm für uns werden, nicht?«, fragte Kestrel und sah ihrem Vater direkt in die Augen. 
    »Na ja, ich nehme an, sie werden uns als abschreckendes Beispiel hinstellen wollen«, erwiderte Hanno und seufzte. 
    »Werden wir in den Kastanienbraunen Bezirk ziehen müssen?« 
    »Ich glaube schon. Es sei denn, ich kann bei der nächsten Großen Prüfung die Welt mit meinem brillanten Verstand beeindrucken.« 
    »Du bist brillant, Papa.« 
    »Danke, Liebling. Leider ist meine Art von Brillanz bei den Prüfungen immer unentdeckt geblieben.« 
    Er verzog das Gesicht. Sie alle wussten, wie sehr er Prüfungen hasste. 
    An diesem Abend kamen die Konstabler nicht, daher aßen die Haths zu Abend und Pinpin wurde gebadet wie an jedem anderen Tag auch. Bevor Pinpin ins Bett gebracht wurde – die untergehende Sonne tauchte den Himmel in ein sanftes, rosiges Licht –, rückten sie zu ihrem Wunschkreis zusammen, wie jeden Tag. Hanno Hath kniete sich auf den Fußboden und breitete die Arme aus. 
    Bowman schmiegte sich in den einen, Kestrel in den anderen Arm. Pinpin stellte sich vor ihn, drückte das Gesicht an seine Brust und legte ihre kurzen Arme um ihn. Ira Hath kniete sich hinter Pinpin und legte Bowman den einen, Kestrel den anderen Arm um die Schultern und so bildeten sie einen Ring. Dann neigten sie die Köpfe, bis sie sich berührten, und sprachen der Reihe nach ihren Abend wünsch aus. Oft wünschten sie sich lustige Dinge, besonders ihre Mutter, die der Familie Blesh einmal fünf Abende hintereinander Eiterbeulen an den Hals gewünscht hatte. Doch heute waren sie alle ernst. 
    »Ich wünsche mir, dass es nie wieder Prüfungen gibt«, begann Kestrel. 
    »Ich wünsche mir, dass Kess nichts zustößt«, fuhr Bowman fort. 
    »Ich wünsche mir, dass meine geliebten Kinder immer glücklich und in Sicherheit sind«, sagte ihre Mutter. So etwas wünschte sie sich immer, wenn sie sich Sorgen machte. 
    »Ich wünsche mir, dass der Windsänger wieder singt«, sagte ihr Vater. 
    Bowman stieß Pinpin an und sie sagte: »Wünsche, wünsche.« 
    Dann küssten sie sich alle und stießen wie immer mit den Nasen zusammen, weil es dabei keine bestimmte Reihenfolge gab. Und nun wurde Pinpin ins Bett gebracht. 
    »Glaubst du, dass das jemals geschehen wird, Papa?«, fragte Bowman. »Wird der Windsänger jemals wieder singen?« 
    »Es ist nur eine alte Geschichte, die niemand mehr glaubt«, erwiderte Hanno Hath. 
    »Ich schon«, warf Kestrel ein. 
    »Das kannst du doch gar nicht«, protestierte ihr Bruder. »Du weißt nicht mehr darüber als andere.« 
    »Ich glaube sie, weil kein anderer sie glaubt«, gab sie zurück. 
    Darüber musste ihr Vater lächeln. »So ähnlich geht es mir auch«, sagte er. 
    Er hatte ihnen die alte Geschichte schon oft erzählt, aber Kestrel wollte sie jetzt wieder hören. Damit sie sich beruhigte, erzählte er den Zwillingen also noch einmal von der Zeit, in der der Windsänger gesungen hatte. Sein Gesang war so schön gewesen, dass er jeden glücklich gemacht hatte, der ihn hörte. Das Glück der Bewohner von Aramanth erzürnte jedoch den Gott Morah… 
    »Aber den Morah gibt’s doch nicht wirklich«, unterbrach ihn Bowman. 
    »Nein, niemand glaubt mehr an den Morah«, bestätigte sein Vater. 
    »Ich schon«,

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