Der Winterpalast
unterging.
Ich bekreuzigte mich und dankte Gott. Es war ein Junge.
Ich stellte mir das Bild in dem Zimmer nebenan vor: Katharinas Sohn zwischen ihren Beinen, die Nabelschnur um seinen Körper gewickelt. Die Hebamme, die jetzt die Nabelschnur durchschnitt.
Die Nachgeburt wurde schnell und ohne große Schmerzen ausgestoßen. Der Säugling bekam einen Löffel voll gewärmten und mit Honig gesüßten Rotwein, damit der Schleim sich löste. Er wurde gebadet und gewickelt.
Durch die Wand hörte ich Katharina schluchzen vor Glück.
Die Vorhänge des kaiserlichen Schlafzimmers wurden aufgerissen. Durch Dunst und Nebel dämmerte milchiges Licht. Draußen mischten sich Freudenschreie mit Musketenschüssen und Hoch
rufen. Und dann setzten nach und nach die Kirchenglocken ein und verkündeten die frohe Botschaft.
Es gibt so viele Koseworte: mein Täubchen, mein Augapfel, mein Schätzchen, mein Falke , und die Kaiserin murmelte sie alle, als sie, das Baby auf dem Arm, gefolgt von ihren Ehrendamen, in ihr Schlafzimmer kam. Ich hatte sie nie so ekstatisch gesehen.
Ein winziges rotes Gesicht, die Äuglein fest zugekniffen. Ein Anflug von Weinen, aber die Kaiserin verscheuchte ihn mit einem Kuss.
Ich blieb im Raum, während die Gratulanten kamen und erklärten, ihnen fehlten vor lauter Ergriffenheit die Worte. Der kleine Zarewitsch, Urenkel Peters des Großen, war wunderbar kräftig und schön. Russlands große Zukunft war gesichert. »So hübsch … so friedlich … schon ein richtiger kleiner Mann.«
Alle drängten sich um die Kaiserin: Fürsten, Grafen, Höflinge, jeder darauf bedacht, von ihr bemerkt zu werden. Der russische Kanzler befreite Finger für Finger von seinen Handschuhen, bevor er das Kreuz über der Stirn des Säuglings schlug. Iwan Schuwalow, seit Kurzem Kurator der Universität von Moskau, trug eine Ode an den Ersehnten, der Minerva beglückt vor.
Befriedigt entließ Elisabeth die Versammlung, selbst Iwan Iwanowitsch schickte sie fort. Im grauen Licht des frühen Morgens wirkte die Wiege mit den Vorhängen, in die sie das Kind behutsam gelegt hatte, übergroß, so als nähme sie das halbe Zimmer ein. Sie setzte sich in einen Sessel daneben und schaukelte den Säugling sanft in den Schlaf.
Ich war schon auf dem Weg zur Tür, als sie mich ansprach. »Geh zu ihr, Warwara«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang angestrengt.
Sie bringt es nicht einmal über sich, ihren Namen auszusprechen , dachte ich.
»Was soll ich der Großfürstin ausrichten, Majestät?«
»Sag ihr, ich bin zufrieden mit ihr.«
Ich nickte.
»Sag ihr, ich bin erschöpft. Sie hat mich die ganze Nacht warten lassen.«
Das Baby war still. Die Kaiserin stand auf, ließ ihren Samtumhang von den Schultern gleiten. In ihrem weiten Gewand aus weißem Batist sah sie wie eine sonderbare Art von Nachtfalter aus. Aus einer dunklen Ecke war ein leises Geräusch zu hören: Eine Maus huschte an der Wand entlang. Wo sind die Katzen? Wenn man sie braucht, ist keine da , dachte ich.
Dann sprach sie aus, was ich die ganze Zeit gefürchtet hatte.
»Dieses Kind gehört mir. Und du sorgst dafür, dass sie keinen Ärger macht.«
Das ist Macht. Die Kaiserin nimmt, was sie haben will, sie entledigt sich der Dinge und Menschen, die sie nicht mehr braucht. Sie kann tun und lassen, was ihr beliebt, denn ihre Laune ist das oberste Gesetz, von dem Wohlergehen und Leben aller abhängen.
Ich wusste es, und trotzdem wartete ich in der Hoffnung, die Kaiserin würde mir vielleicht doch noch irgendetwas Tröstliches mitgeben, etwa die Versicherung, dass Katharina ihr Kind bald wiedersehen würde, vielleicht sogar einen bestimmten Termin.
Einen Moment lang sah es so aus, als könnte Elisabeth sich erbarmen und Katharina ein paar Brosamen ihres Wohlwollens zukommen lassen, aber dann wimmerte das Baby in der Wiege, und sie wandte sich von mir ab und beugte sich über das Kind.
Mein Herz war schwer, als ich das Geburtszimmer betrat. Ich hatte erwartet, Besucher bei Katharina vorzufinden, aber es war nicht einmal eine Zofe zu ihrer Bedienung da. Sie zitterte vor Kälte, die Bettwäsche war nass von ihrem Schweiß. Die Kerzen waren verschwunden.
Sie hatte die Arme um sich geschlungen, die leeren Arme.
Ich streichelte ihr feuchtes Haar und versuchte sie zu trösten. »Er wird sterben«, schluchzte sie. »Er wird sterben ohne mich.«
»Die Kaiserin würde nie zulassen, dass ihm irgendein Leid ge
schieht«, sagte ich. »Er hat es gut, seine Wiege ist mit
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