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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Trauben aus Astrachan.
    Katharina saß in einem Chintzsessel, die Beine so übereinandergeschlagen, dass der rechte Knöchel auf dem linken Knie lag. Sie war mir vertraut und wirkte zugleich vollkommen fremd. Meistens unterhielt sie sich mit Stanislaw.
    »Und was haben Sie sonst noch auf Ihren Reisen gelernt?«
    »Dass die Menschen weit mehr miteinander gemein haben, als sie glauben. Dass alle Gesellschaften, so verschieden sie auch sein mögen, dasjenige gut nennen, von dem man glaubt, dass es für das eigene Überleben gut ist.«
    Sie lasen dieselben Bücher, sie bewunderten dieselben Philosophen. Sie waren beide der Ansicht, dass Kriege oft zum Motor unvorhersehbaren Fortschritts werden können. Sie bekannten beide, dass Paradoxien sie faszinierten. Ein Mann sagt: Ich lüge. Ist diese Aussage wahr oder falsch?
    Sie ist wahr.
    Dann lügt er nicht.
    Sie ist falsch.
    Dann lügt er.
    Sie ist weder wahr noch falsch? Aber wie ist das möglich? Oder kann etwas wahr und zugleich falsch sein?
    Nach vorn gebeugt saßen sie einander gegenüber, sein Haar dunkel und gepudert, ihres schwarz glänzend. Ich lauschte ihren Stimmen, wartete darauf, dass Schweigen sich auftat wie ein Riss. Ich beobachtete sie, wie sie sich aus der schützenden Menge zurückzogen ins Halbdunkel. Hinter eine Vitrine mit Nippes zu einem Fenster mit Blick auf die Newa. Ich hörte sie Worte wechseln, die akute Gefahr signalisierten.
    »Müssen Pflicht und Glück einander ausschließen?«
    »Darf die Ehe ein Gefängnis sein?«
     
    Es war schon nach drei Uhr morgens, als Katharina und ich aufbrachen. Stanislaw und Lew Naryschkin bestanden darauf, uns zu begleiten. Wir traten hinaus auf den Kai. Nahe am Ufer war die Newa schon gefroren. Es war dunkel, nur vereinzelte Feuer von Wachsoldaten erhellten die Nacht.
    Katharina und Stanislaw gingen voraus, langsam, als wollten sie das Ende der Nacht hinauszögern. Lew Naryschkin, der wohl oder übel mir Gesellschaft leisten musste, bedrängte mich mit seinen tatschenden Händen und seinem Wodkaatem, bis ich ihn entschieden wegstieß.
    Ich dachte an Igor, der in irgendeiner fernen Garnison festsaß. Bis jetzt keine Läuse oder sonstiges Ungeziefer , hatte er in einem seiner kurzen Briefe geschrieben, was der Hitze der Banja zu verdanken ist. Einem Brief hatte er eine Zeichnung für Darja beigefügt. Sie zeigte ihn, wie er ein Pferd beschlug. Ich versuche, möglichst viel zu lernen , hatte er dazugeschrieben. Damit ich mir helfen kann, wenn es notwendig ist.
    Die Große Perspektivstraße war wie ausgestorben; dort, wo am Abend Kutschen und Schlitten gestanden hatten, waren jetzt nur noch zertrampelter Schnee und Pferdeäpfel zu sehen. Trotzdem bestand ich darauf, dass unsere Begleiter sich nun verabschiedeten und uns den Rest des Weges alleine gehen ließen.
    »Was Stanislaw alles gesehen hat, Warenka!«, sagte Katharina, als wir zum Palast eilten. »Und überall lieben ihn die Menschen.«
    Er hatte den rosafarbenen Morgenhimmel über der Île de la Cité gesehen, die von Blumen gesäumten Wege der Tuilerien, die zahmen Kraniche in der Ménagerie de Versailles . Die Vögel näherten sich ganz zutraulich den Besuchern, hatte er erzählt, sie wollten ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
    »Und weißt du, was er noch gesagt hat, Warenka? ›Ein Wort von Ihnen genügt, Sophie, dann nehme ich Sie dorthin mit.‹«
     
    Katharina und Stanislaw. Wenn er lächelte, lächelte sie auch; wenn sie die Stirn runzelte, wurde auch er nachdenklich. Wie kommt es, dass ich gleichwohl traurige Erinnerungen mit dieser Zeit verbinde?
    Nach und nach verbreiteten sich Berichte von dem Erdbeben in Lissabon. Es war unvorstellbar. Hunderttausend Menschen unter Trümmern begraben. Häuser, die über ihren Bewohnern einstürzten. Berge von Leichen, Haufen von zerquetschten Gliedmaßen, die von Ärzten amputiert worden waren, damit die Schwerverletzten nicht am Wundbrand starben.
    »Wie kann das sein, Maman?«, fragte Darja, die vor Angst nicht mehr einschlafen konnte. »Wie kann die Erde sich bewegen?«
    Ich hielt sie in den Armen und betete, dass sie nie erfahren möge, wie es ist, wenn von einem Moment zum nächsten das ganze Leben in sich zusammenstürzt. Mit leiser Stimme suchte ich sie zu beruhigen: Erdbeben kamen nicht nach Sankt Petersburg, solche Katastrophen passierten nur in fernen Ländern, ganz, ganz weit weg. »Ich bleibe bei dir«, versprach ich. »Ich gehe nie von dir fort.«
    Ein paar Tage lang war sie beruhigt, aber dann

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