Der Winterpalast
Buchbinderstochter, die im Auftrag der Kaiserin die Hofgesellschaft bespitzelte, schmiedeten Pläne, die Welt nach ihren eigenen grandiosen Wünschen zurechtzumodeln, während die wirklich wichtigen Ereignisse der Zeit unaufhaltsam ihren eigenen Lauf nahmen.
Im kaiserlichen Schlafzimmer brannten immer dicke Wachskerzen. An manchen Abenden traf ich Elisabeth an, wie sie im Negligee vor dem Spiegel saß, die Falten in ihrem Gesicht studierte und an den Rüschen um ihr Dekolletee nestelte. Ohne Perücke wirkte ihr Kopf klein und nackt, fast wie der eines Kindes. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, das sie kurzschneiden ließ, seit es immer lichter wurde. Ihre Katzen saßen oder lagen im Dunkeln, rekelten sich, haschten nach Staubflusen, leckten zu sonderbaren Posen verrenkt ihre Hinterbeine.
Ich wusste nie, was die Kaiserin von mir wollte, wenn ich das Schlafzimmer betrat. Reden oder zuhören? Sollte ich ein Urteil abgeben oder einfach nur referieren? Manchmal verlangte sie, dass ich die Sachen der Zofen durchsuchte, weil irgendetwas abhanden gekommen war, ein Kamm, ein Riechfläschchen, eine Haarnadel, ein Ring. Manchmal verkündete sie, dass sie dieses oder jenes beschlossen habe, so etwa, dass es den Damen des Hofs verboten sein sollte, rosa Spitzen oder Besatzbänder zu verwenden; die Farbe Rosa sollte allein ihr vorbehalten sein. Eines Nachts fragte sie mich, ob ich schon einmal von meinem Vater geträumt hatte, aber bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, schlug sie die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Einmal schnüffelte sie an ihrem Schuh und verzog angewidert das Gesicht. »Stimmt irgendetwas nicht, Hoheit?«, fragte ich. Sie blickte auf, aber es war, als sähe sie durch mich hindurch. »Es ist fast unmöglich«, murmelte sie, »die Vergangenheit von der Gegenwart fernzuhalten.«
In Gedanken sah ich lautlos Sand durch ein Stundenglas rinnen. Vielleicht hat Sir Charles recht , dachte ich. Vielleicht ist der Tod nicht mehr so sehr weit, und dann verändert sich alles.
Gegen Ende August war der Hof nach Sankt Petersburg zurückgekehrt. Aus den geöffneten Koffern im kaiserlichen Schlafzimmer duftete es nach Zedernholz und Rosmarin. Die Kaiserin war nervös, ging rastlos von einem Zimmer ins nächste, immer auf
der Suche nach Ablenkung: Sie wartete auf Nachrichten aus Ostpreußen.
Ich packte gerade ein Nachthemd aus rosa Damast aus, das Elisabeth besonders liebte, als der Kanzler eintrat, eine Depesche in der Hand. Die Kaiserin schloss die Augen und faltete die Hände – offenbar schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel.
»Vernichtet, Majestät!«, rief er freudestrahlend. »Aufgerieben. Und das ist erst der Anfang. Der endgültige Sieg Ihrer Majestät ist jetzt gewiss.«
Die russischen Truppen hatten Friedrich von Preußen bei Groß-Jägersdorf geschlagen.
»Feldmarschall Apraxin schickt einen ausführlichen Bericht mit der nächsten Post. Hier ist eine kurze Zusammenfassung.«
»Lesen Sie vor«, befahl die Kaiserin.
Der Kanzler las langsam, jeder Satz ein Triumph. Die Preußen hatten angegriffen. Die kalmückische Kavallerie und die Donkosaken hatten sie in eine Falle gelockt, ins Feuer der russischen Artillerie. Die Schlacht hatte den ganzen Tag gedauert. Man hatte die umliegenden Dörfer in Brand gesteckt, um den Preußen die Sicht zu vernebeln. In den Rauchschwaden, die über das Schlachtfeld trieben, hatten die russischen Bajonette sehr viel leichter ihr Ziel gefunden als die preußischen Musketenkugeln. Elisabeth Petrowna, die Tochter Peters des Großen, hatte Friedrich eine erste Lehre erteilt. Jetzt stand Preußen nackt und hilflos vor der Macht Ihrer Majestät.
Als der Kanzler geendet hatte, rief die Kaiserin ihr ganzes Gefolge ins Zimmer zum Gebet vor der Ikone der Jungfrau von Kasan.
Alle sollten Gott danken für den triumphalen Sieg, den er Russland geschenkt hatte.
Ich war allein in meinem kleinen Wohnzimmer, als der Bote die Nachricht brachte, dass Igor einer der 4500 russischen Soldaten war, die bei Groß-Jägersdorf gefallen waren.
Ich hörte die Worte, ohne sie zu begreifen, zu unwirklich schienen sie zu sein. Der Bote kannte diese Reaktion nur zu gut und wusste, wie er sich zu benehmen hatte: Er blickte mich mit düsterem Ernst an, verbeugte sich achtungsvoll und zog sich diskret zurück. Ich sank nieder auf das Sofa, bleischwer. Reglos saß ich da.
Nebenan hörte ich Schritte, dann die Stimme der Gouvernante, die irgendwelche Übungen mit Darja
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