Der Winterpalast
Sie war hart und kalt. Dann hob ich Darja hoch, damit auch sie ihn küssen konnte.
»Du bist die Tochter eines Helden, Darenka«, hatte Katharina zu ihr gesagt. »Du musst tapfer sein.«
Auf dem Lazarus-Friedhof, umgeben von erschreckend vielen frischen Gräbern, beteten wir vor einem schlichten Stein, auf dem in Messinglettern geschrieben stand: Igor Dmitrijewitsch Malikin, 15. Mai 1725-19. August 1757. Der Herr gebe ihm die ewige Ruhe.
Auf dem Rückweg roch die Stadt nach Müll und Harz, nach feuchten Kleidern und Qualm.
Zu Hause nahm ich meine Tochter in die Arme, und sie klammerte sich an mich, als müsste sie ertrinken. Später entdeckte ich, dass meine Arme überall dort, wo sie sich festgekrallt hatte, übersät waren mit blauen Flecken.
»Eine Soldatenwitwe, Warwara Nikolajewna, wird niemals allein sein«, versicherte mir Alexej Orlow.
Er war, nachdem er die traurige Nachricht erhalten hatte, nach Sankt Petersburg gekommen, sobald er konnte. Auch Grigori war unterwegs. Iwan Grigorjewitsch Orlow, der älteste der Brüder, hatte mir bereits seine Hilfe zugesagt und angeboten, dass ich in dem Haus in der Millionnajastraße wohnen konnte. Es lag nicht weit vom provisorischen Palast entfernt; ein Bote konnte in wenigen Minuten dort sein.
Alexej erzählte von seiner letzten Begegnung mit Igor. Die beiden Brüder waren mit ihm in der banja gewesen. Mein Mann hatte eben seinen Marschbefehl erhalten und war bester Laune. Er hatte von mir und Darja geredet und Grigori gefragt, was für ein Geschenk er mir mitbringen könnte, wenn er auf Urlaub nach Hause käme. Er hatte einen Scherz darüber gemacht, dass er einen Mann um Rat bat, der neun Jahre jünger war als er. »Aber mein Bruder, Warwara Nikolajewna« – ein blasses Lächeln huschte über Alexejs Gesicht –, »ist eben ein Mann, der weiß, was Frauen gefällt.«
Er hatte Igor versprochen, dass er mich und Darenka wie seinen Augapfel hüten würde. Darauf könne ich mich immer fest verlassen.
Mein Blick war die ganze Zeit, während er sprach, auf die Narbe in Alexej Orlows Gesicht gerichtet. Sie stammte von einer Wunde, die vollständig verheilt war.
An dem Tag, bevor er wieder abreiste, sagte Alexej Orlow, er habe eine Bitte an mich. Er habe Nachforschungen angestellt und erfahren, dass Darjas Taufpate Oberst Sinowjew vor drei Jahren gestorben war. »Sie würden mir eine große Ehre erweisen, Warwara Nikolajewna, wenn Sie mir erlauben würden, an seine Stelle
zu treten: Bitte betrachten Sie mich als Darja Igorewnas Taufpaten.«
Ich nickte.
Er fasste meine eisig kalte Hand und drückte sie an sein Herz.
Bevor ich auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, welchen Beistand ich in dieser Trauerzeit nötig haben könnte, war Alexej bereits tätig geworden. Er hatte zwei Gardesoldaten an der Tür postiert, er selbst empfing im Flur die Kondolenten und führte sie in den Salon. »Ein großer Verlust«, hörte ich ihn sagen. »Die längsten Halme schneidet die Sichel zuerst.« Die zwei jüngsten Brüder Fjodor und Wladimir beaufsichtigten die Lakaien, die all die Hüte, Spazierstöcke, Handschuhe und Visitenkarten der Besucher entgegennahmen, die in stetem Strom zu uns kamen. Dienstboten der Orlows servierten Tee und Erfrischungen und stellten die Blumen, die die Gäste mitbrachten, in Vasen. Alle Räume waren von Blütenduft erfüllt.
Der Honig, mit dem Mascha unseren Tee süßte, kam von den Landgütern der Orlows, ebenso der weiße Käse und der geräucherte Schinken. »Tag um Tag, es hört nicht auf«, sagte Mascha staunend, wenn wieder ein Korb mit Lebensmitteln aus der Millionnajastraße kam. »Und immer ein freundliches Wort dabei.«
Alle fünf Brüder unterschrieben die Karten, die den Geschenken beilagen: Iwan, Grigori, Alexej, Fjodor, Wladimir.
Schwarz gekleidet saß ich auf dem Sofa in meinem kleinen Wohnzimmer, das Denken von Laudanum verlangsamt. Manchmal kamen mir die Besucher vor wie Marionetten, deren gepuderte Köpfe grotesk hin und her wackelten, während sie ihre Texte aufsagten. Besinnen Sie sich auf das Gute, das Ihnen geblieben ist. Man muss sich dem Willen Gottes fügen. Der Hammer zerschmettert Glas, aber er schmiedet das Eisen. Mögen Sie Kraft und Trost finden in der Freundschaft und der liebenden Sorge für Ihr Kind.
Bestimmt war das Laudanum daran schuld, dachte ich, dass
ich alle diese Leute fortwünschte. Dass ich mich nur noch danach sehnte, zu schlafen, immer nur zu schlafen bei Tag und Nacht und Darjas
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