Der Winterpalast
anspielten, wechselte sie das Thema. Sie hatte wichtigere Sorgen.
Im Juni erlitt Friedrich bei Kolin seine erste Niederlage. Er war also doch kein so großer Stratege, wie man immer gedacht hatte. Die Österreicher hatten ihn zum Angriff gezwungen, aber sein Versuch, den Feind an der Flanke zu fassen, misslang. Jetzt musste Russland seinen Schlag führen, der Zeitpunkt war ideal.
Der Kanzler verbrachte immer mehr Zeit mit der Kaiserin. Ich sah ihn oft mit Karten und Dokumenten unter dem Arm zu ihrer Suite gehen. Feldmarschall Apraxin führte seine Truppen gegen Ostpreußen. Igor würde diesen Sommer nicht nach Sankt Petersburg kommen können. Seine Briefe waren jetzt noch kürzer, sorglos heitere Nachrichten aus dem Soldatenleben: Blasen, immer wieder Blasen an den Füßen, nichts Schlimmeres, das lang vergessene Glück, in einem Heuschober zu übernachten. Und es war immer eine Zeichnung für Darja dabei: Papa trocknet seine nasse Hose am Lagerfeuer. Papa beim Blaubeerenpflücken.
Ich hörte die Stimme des Kanzlers, die beruhigend auf Elisabeth einredete: Ihre Offiziere waren die besten Europas, ihre Soldaten voller Opfermut, ihrer geliebten Zarin treu ergeben bis in den Tod.
Einmal frühmorgens, als die Kaiserin schon ziemlich betrunken vom Kirschlikör war, fragte sie mich wieder nach Lew Naryschkin, und ich erzählte ihr die Geschichte, wie er auf dem Weg zu Katharina von den Wachposten in Oranienbaum aufgehalten worden war. Er gab sich als Musiker im Dienst der Großfürstin aus.
»Was spielen Sie«, fragte der Wachhabende.
»Flöte«, sagte Naryschkin.
»Dann zeigen Sie mal Ihr Instrument vor.«
Die Kaiserin lachte. Mir war, als erteilte sie damit ihre Absolution, als besiegelte dieses Gelächter einen Waffenstillstand.
Im Juli erhielt Sir Charles ein Schreiben, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass man seinem Rücktrittsgesuch entsprochen hatte. Sein Nachfolger, ein gewisser Mr. Keith, würde in einigen Monaten eintreffen. Bis dahin sollte George Rineking, der Sekretär von Sir Charles, die Amtspflichten des britischen Botschafters wahrnehmen.
Er schickte einen Verabschiedungsbrief nach London. Er war ein freier Mann.
»Ich habe nicht vor, abzureisen, pani Barbara«, sagte er zu mir. »Richten Sie bitte der Großfürstin aus, dass ich alles tun will, um erreichbar zu sein, wenn sie meinen Rat sucht.«
Wir saßen in einem Wirtshaus in der Nähe des Anitschkow-Palais zusammen – Sir Charles hatte den Treffpunkt ausgewählt. Die Fenster waren beschlagen von Dunst, die Bodendielen schmierig von Spucke und verschüttetem Bier. Auf meinem Weg hatte ich Hunde gesehen, die sich um Küchenabfälle balgten; Kinder hatten Steine nach ihnen geworfen.
Sir Charles' Enthusiasmus war ansteckend. Selbst Peters Alkoholexzesse in all ihren schmutzigen Details erschienen, wenn er
darüber redete, plötzlich in einem Licht, das geradezu wie der goldene Schimmer einer Verheißung anmutete. Die Ausschweifungen des Großfürsten würden sein Leben verkürzen. Wenn er starb, konnten Katharina und Stanislaw heiraten.
»Ich rate der Großfürstin, die Lage aufmerksam zu beobachten und abzuwarten. Sie sollte alle Optionen sorgfältig prüfen und sich nicht in die Karten schauen lassen«, sagte Sir Charles. »Sie sollte ihre Beziehungen zu den Schuwalows verbessern. Auch sonst Verbindungen nach allen Seiten hin pflegen. Sie darf sich nicht zu früh auf eine Position festlegen.«
Ich nickte. In die Platte des grob gezimmerten Tischs vor uns hatte jemand ein von zwei Pfeilen durchbohrtes Herz geschnitzt. Igor hatte in seinem letzten Brief berichtet, dass sein Regiment die Grenze von Ostpreußen überschritten hatte, ohne auf Widerstand zu stoßen. Die Belagerung von Memel hatte er verpasst. Als er dorthin kam, war die Siegesfeier schon im Gang. Wir werden bald in Richtung Westen marschieren , hatte er geschrieben, aber Genaueres weiß ich noch nicht.
»Die Großfürstin kann auf mich zählen«, fuhr Sir Charles fort. »Ich werde in Sankt Petersburg bleiben, solange ich ihr von Nutzen sein kann.«
Er beugte sich vor, seine Augen leuchteten. »Wir sind keine Soldaten, pani Barbara.« Es klang eindringlich. »Wir beide kämpfen nicht in einem Krieg. Aber wir können dazu beitragen, eine bessere Welt für unsere Kinder zu schaffen.«
In diesem Sommer hielt auch ich mich für unentbehrlich.
Ich sah die Dinge nicht, wie sie wirklich waren. Es war nur eine harmlose Intrige: Ein Botschafter im Ruhestand und eine
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