Der Winterpalast
zarten Körper neben mir zu spüren.
Aber an dem Tag, da die Kondolenzbesuche aufhörten, fand ich mich in einer Leere wieder, die vollends unerträglich war. Mascha hatte Darja mit zum Markt genommen, und ich hatte nichts zu tun. Ich versuchte zu lesen, doch die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen.
Draußen auf der Straße lachte jemand. Ein Pferd schnaubte und wieherte. Ich schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. Grigori und Alexej waren inzwischen wieder abgereist mit der Versicherung, dass mein Mann unvergessen bleiben werde.
Ich saß in Witwenkleidern in dem leeren Wohnzimmer und starrte auf Igors Porträt mit seinen heiteren Farben. Das gemalte Gesicht ähnelte Igors wahren Zügen nur vage. Lag es an den Fältchen, die Igor unbedingt hatte haben wollen? War die Nase zu gerade, das Kinn zu wenig kantig?
Ich dachte an die kleine Näherin, die ich gewesen war, elternlos, verloren, einsam, nach Aufmerksamkeit hungernd. Ich dachte an die Spionin, geködert mit der Illusion, sie sei wichtig, eifrig darauf bedacht, anderer Leute Leben auszuforschen. Ich dachte an die junge Braut, die, geblendet von allzu grandiosen Erwartungen, nicht erkannte, dass das Glück zum Greifen nah lag.
Ich dachte daran, was möglich gewesen war und nie wirklich werden würde.
Der Schmerz des Verlusts brach über mich herein, übermächtig wie eine Flutwelle nach einem Erdbeben.
Ich erkannte Sir Charles kaum wieder, als ich ihn eines Nachmittags Ende September auf einer Bank unweit von Igors Grab auf mich warten sah. Es war noch warm, obwohl bereits das erste welke Laub auf den Wegen lag.
Er bot einen elenden Anblick: blutunterlaufene Augen, Schnitte vom Rasiermesser am Kinn, der graue Reisemantel zerknittert
und schmutzig. Er stand auf und breitete die Arme aus, als ich mich näherte, aber dann ließ er sie abrupt fallen.
Ich spürte, wie Darjas Hand sich in meiner verkrampfte.
»Er ist ein alter Freund«, flüsterte ich ihr zu. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Papas Freund?«, fragte sie. Es klang immer noch zweifelnd.
»Ja.« Ich hob meinen schwarzen Schleier vor meinem Gesicht. »Und unserer.«
Sir Charles sprach mir sein Beileid aus und entschuldigte sich dafür, dass er mich nicht früher aufgesucht hatte. »Es ging mir nicht gut. Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse.«
Er ist bestimmt nicht hier, um mir zu kondolieren , dachte ich.
Erst als wir langsam zurück zur Kutsche gingen, Darja einige Schritte vor uns, bat er mich, die Großfürstin zu warnen.
»Richten Sie ihr aus, sie soll mir nicht schreiben, pani Barbara. Meine Post wird geöffnet. Alle meine Diener werden bestochen.«
Die Schuwalows hetzten die Kaiserin gegen Feldmarschall Apraxin auf. Der Glanz des Sieges von Groß-Jägersdorf verblasste, immer lauter wurden Stimmen vernehmbar, die dem russischen Oberbefehlshaber schwere Fehler und Versäumnisse vorwarfen und ihn für unfähig erklärten. Nachschub blieb aus, Truppen wurden fehlgeleitet, Befehle zu spät ausgegeben, weil der Feldmarschall nicht vor zehn Uhr morgens geweckt werden wollte.
Ich zuckte bei der Erwähnung von Groß-Jägersdorf zusammen, aber Sir Charles sah mich nicht an. Er sprach in kurzen abgehackten Sätzen.
»Ich kann nur hoffen, dass die Großfürstin nichts Unüberlegtes getan hat«, sagte er. Sie war beunruhigend oft mit Bestuschew gesehen worden. Was wollte er von ihr? Sie würde sich doch wohl nicht dazu verleiten lassen, offen für Apraxin Partei zu ergreifen?
Ich spürte, wie Ärger in mir aufstieg. Was ging das mich an? Hofklatsch, politische Intrigen – gab es nichts Wichtigeres auf der Welt?
Darja vor uns machte ausgelassen ein paar hüpfende Schritte, dann erstarrte sie plötzlich und sah mich betreten an, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Kann Papas Seele mich sehen? , hatte sie an diesem Morgen gefragt.
»Bitte erinnern Sie die Großfürstin daran, dass Apraxin als Vertrauter von Bestuschew gilt«, fuhr Sir Charles fort. Seine Finger nestelten nervös an den silbernen Knöpfen seines Mantels. Der Geruch von muffiger Wolle stieg mir in die Nase.
»Ja.« Ich bemühte mich nicht, meinen Verdruss zu verbergen. »Werde ich tun.«
Sir Charles blieb abrupt stehen und fasste mich am Arm. Ich sah, dass seine Fingerknöchel ganz weiß waren.
»In den Wochen, in denen Sie nicht bei der Kaiserin waren, hat sich einiges getan, pani Barbara«, stieß er hervor, so ungestüm, dass feine Tröpfchen Spucke auf mein Gesicht sprühten. »Die Kaiserin ist
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