Der Winterpalast
wählen.«
Stanislaw trat ein. Er war noch in seine Reisepelze gehüllt, als könnte er gar nicht recht glauben, dass die lange Reise endlich vorüber war. Er trug eine gepuderte Perücke, die sein schön geschnittenes Gesicht schmaler erscheinen ließ. Er kam mir älter und ernster vor, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er fasste meine Hand und führte sie an seine Lippen.
»Wie geht es ihr, meine Liebe?«, fragte er.
»Besser, seit sie weiß, dass Sie da sind.«
Ich reichte ihm das Schreiben von Katharina und sah zu, wie er mit zitternden Fingern das Siegel erbrach. Er las den Brief und küsste ihn.
»Sie haben uns lange warten lassen«, sagte ich.
»Ich musste meine Reiseroute ändern.« Er blickte in das flackernde Feuer des Kamins. »Man hat mich gewarnt – ich sollte überfallen werden, kurz hinter der russischen Grenze.«
»Überfallen?«, fragte ich besorgt. »Wer hat sie gewarnt?«
Er lächelte nachdenklich. »Das will ich ihr lieber selbst erzählen.«
Ich spürte einen Stich im Herzen. Seine Antwort machte mir wieder bewusst, dass ich nicht so wichtig war, wie ich mir eingebildet hatte.
Draußen auf dem Gang waren Schritte zu hören. Die Tür ging auf und ein Diener erschien, um zu fragen, ob wir eine Kleinigkeit essen wollten. Stanislaw sah mich an, ich schüttelte den Kopf. Ich musste zurück in den Palast.
Stanislaw entließ den Diener und bot mir an, mich ein Stück auf dem Weg zu begleiten.
Die gleißende Wintersonne war mittlerweile von schweren Wolken verhängt, dicke Schneeflocken fielen. Er stellte mir viele Fragen, während wir die Große Perspektivstraße entlanggingen, und ich gab ihm bereitwillig Antwort.
Ja, Katharina ging es gut. Sie trug jetzt das Haar kürzer, aber immer noch ungepudert, wie es ihm gefiel. Nein, er konnte sie nicht jetzt gleich besuchen, das war zu gefährlich. Sie wollte ins Palais der Naryschkins kommen, sobald es ging. Vor elf Uhr konnte sie bestimmt nicht weg.
Er sollte sich verkleiden, am besten als Musiker, und das Palais durch den Dienstboteneingang betreten.
Ich würde ihr ausrichten, dass es ihm gut ging und dass er die Sekunden zählte, bis er sie wiedersah.
Nach ein paar Minuten machte er wieder kehrt, zurück zur Botschaft. Auch abseits des Palasts gab es viele neugierige Augen.
Ich sah ihm nach, als er langsam wegging. Ein Bettler hielt ihn auf. Stanislaw steckte eine Hand in die Manteltasche und zog eine Münze hervor. Dann hörte ich, wie das flehende Jammern des Bett
lers plötzlich umschlug und sich eine wahre Flut von Segenssprüchen über Stanislaw ergoss.
Sosehr ich mich mit Katharina freute, traten jetzt doch meine eigenen Sorgen wieder mehr in den Vordergrund. Igor hatte geschrieben: Er war mit seinen Rekruten nach Westen in Richtung Ostpreußen beordert worden. Die Brüder Orlow, versicherte er mir, hatten ihm in die Hand versprochen, dass sie sich um mich und Darja kümmern würden, falls ihm etwas zustoßen sollte.
Als ich in dieser Nacht Katharina zum Palais Naryschkin begleitete, erhaschte ich durch eines der Fenster im Erdgeschoss einen flüchtigen Blick auf das bleiche, ernste Gesicht Stanislaws und eine winkende Hand.
Katharinas Gesicht leuchtete auf. Ihre Ungeduld machte sie noch schöner. Die vom Frost geröteten Wangen brauchten kein Rouge, die funkelnden Augen kein Belladonna.
Für sie ist die Zeit der Einsamkeit vorbei , dachte ich. Das Warten hat ein Ende.
Sie hielt noch einmal kurz inne, bevor sie ins Haus eilte. »Danke, Warenka«, hauchte sie lächelnd. »Ich werde dir nie vergessen, was du für uns getan hast.«
Irgendetwas an ihr irritierte mich, aber ich kam nicht darauf, was es war. Erst später wurde mir klar, dass ihre Lippen in einer Weise leicht nach innen gezogen waren, die mich an das selbstgefällige Lächeln ihrer Mutter erinnerte.
Komisch , dachte ich verblüfft. Was für ein abwegiger Gedanke.
Der Hof begrüßte das neue Jahr mit Feuerwerk und Kanonenschüssen. Der Neujahrsball fand in Peterhof statt. Bevor sie Sankt Petersburg verließ, warf sich die Kaiserin vor der Ikone der Gottesmutter von Kasan auf die Knie und betete. Bitte , hörte ich sie murmeln, bestrafe nicht Russland für meine Sünden.
Siebzehnhundertsiebenundfünfzig sollte das Jahr des Sieges werden.
Ich dachte an Igor in seiner Militärbaracke, an seine knappen Briefe. Der Winter ist hart, aber ich bin guter Dinge. Sag Darja, dass mir das Bild mit dem Pferd am besten gefällt.
Nach den Neujahrsfeierlichkeiten sah ich
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