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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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machte.
    Ich stand auf und öffnete die Tür. Meine Hand zitterte.
    »Schau, Maman«, sagte Darja. Sie schritt, die Locken von einer gehäkelten Mütze gebändigt, in ihren hochhackigen Schuhen durchs Zimmer, ohne zu stocken oder zu stolpern, in tadellos gerader Haltung.
    Ich machte Mademoiselle Dupont ein Zeichen, uns allein zu lassen.
    Dann sagte ich Darja, dass ihr Vater tot war.
    Sie stand regungslos, die Stirn gerunzelt vor Anstrengung, um zu verstehen, was ich ihr mitgeteilt hatte. Sie hatte von Schlachten und Krieg reden hören. Sie hatte Gemälde gesehen, auf denen gefallene Soldaten zu sehen waren, die noch im Tod ihre Musketen umklammerten, während ihre Kameraden mit Hurra vorwärtsstürmten.
    Sie streifte behutsam die Schuhe ab.
    »Ich muss meine Schuhe aufräumen«, sagte sie, hob sie auf und wischte mit dem Ärmel darüber.
    Ich nahm Darja in die Arme. Ich wartete auf Tränen, aber sie kamen nicht. Durch die dünne Wand hörte ich Mascha mit dem Dienstmädchen schimpfen.
    »Weine, Darenka«, flüsterte ich. »Weine.«
    Aber sie weinte nicht. Erst als sie Maschas durchdringende, heisere Klageschreie hörte.
    Erst da flossen die Tränen, ihre und meine. Stumm und heiß.
    Ich saß an Darjas Bett, bis sie endlich einschlief, die eine Hand um ihre Puppe gelegt, die andere schlaff in meiner. Unsere Woh
nung roch nach dem ladan , mit dem man in Russland in Trauerhäusern räuchert, ein süßer und scharfer Duft, der den Schmerz betäuben soll.
     
    Auf den Straßen von Sankt Petersburg gab es viele mit demselben Schicksal, Ehefrauen, Mütter, Schwestern, Töchter, alle schwarz verschleiert. Wir erkannten einander daran, dass die schwarzen Kleider noch ganz neu waren, und an der Art, wie wir die Augen niederschlugen, wenn von dem glorreichen Sieg die Rede war.
    »Schlachtfelder stinken wie ein Misthaufen«, hatte Igor einmal zu mir gesagt. »Im Sterben entleeren Männer und Pferde ihre Därme.«
    Unter den Sachen meines Mannes, die man mir brachte, waren sein Säbel, sein Siegelring, seine Pistolen und ein Holzkasten mit zwei Töpfchen von Maschas Stiefelwichse.
    Drei Tage nach dem Ende der Schlacht hatte man seine Leiche gefunden. Ein Militärarzt schrieb mir, dass ein Bajonett Igors Oberschenkelknochen zersplittert hatte. Eine Kugel hatte den Knochen des linken Arms durchschlagen. Wenn er überlebt hätte, hätte man ihm beide Gliedmaßen amputieren müssen. Ich solle in all meiner Trauer daran denken, was für ein Leben er dann hätte führen müssen.
    »Ach, Warenka«, seufzte Katharina. »Mein liebes Kind.«
    Sie hatte schwarze Spitzen und Satinbänder für meine Trauerkleider gebracht. Sie hängte Darja ein Kettchen mit einem goldenen Kreuz um den Hals. »Ich darf nicht einmal zur Beerdigung kommen.« Sie legte die Hand auf ihren Bauch. » Sie meint, ein Friedhof ist kein Ort für eine Frau in meinem Zustand. Aber wieso sollte mich das überraschen, Warenka? Sie hat mir damals sogar verboten, um meinen eigenen Vater zu trauern. Schließlich war er kein König, hat sie gesagt.«
    Es lag so viel freundliches Mitgefühl in ihrer Umarmung.
     
    Igors einbalsamierte Leiche wurde nach Petersburg gebracht, um hier bestattet zu werden. Er sah bleich und wächsern aus. Eine Wunde auf der Stirn war genäht worden. Eine Augenbraue sah sonderbar geknickt aus. Sein Hals war ganz verschrumpelt, als zöge Igor im Tod die Schultern hoch.
    Der Tod meines Mannes wurde im Hofjournal angezeigt – sein Name stand ein gutes Stück weiter unten als der von Fürst Trubezkojs jüngstem Sohn, der auch in Groß-Jägersdorf gefallen war. Alter Adel und Dienstadel sind eben nicht gleich viel wert, dachte ich verbittert. Die Kaiserin hatte mich für zwei Monate von meinen Pflichten entbunden. Sie wollte keine frisch Verwitwete in ihrer Nähe haben. Im Palast hielt man den Tod auf Abstand, als wäre er ansteckend.
    Mit Maschas Hilfe drehte ich alle Spiegel in unserer Wohnung gegen die Wand, damit Igors Seele sich nicht darin »verfing«. Wir banden ein schwarzes Kreppband um ein Eck seines Porträts. Wie es Sitte war, verschickte ich Trauerkarten mit einer Bordüre aus Totenköpfen und gekreuzten Knochen und lud Freunde und Bekannte zu Kondolenzbesuchen ein.
    Meine Tochter hielt während des Trauergottesdiensts ganz fest meine Hand. Ich brachte es nicht über mich, sie dafür zu tadeln, dass sie die Haut an ihren Fingerknöcheln aufgekratzt und ihre Nägel abgebissen hatte. Bevor der Sarg geschlossen wurde, küsste ich Igors Wange.

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