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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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und beschwingten Schritts nach Hause gingen. Ich musste sie aufheitern, sagte ich mir, dafür war ich da. Hatte sie jemals gefragt, was aus Bronjas Kätzchen geworden war?
    Und dann, in einer mondlosen Nacht, in der ein kalter Nordwind pfiff, befahl mir die Kaiserin, ihr Annas Kleider und Spielzeuge zu bringen. Sie küsste die Falten der winzig kleinen Hemdchen, strich über die Spitzen des weißen Taufkleidchens, hob die
Puppen, eine nach der anderen, hoch und starrte in ihre leblosen Augen.
    »Es ist manchmal so unendlich schwer, Gottes Fügungen hinzunehmen, Warwara«, sagte sie.
    Ich nickte schweigend.
    Lange saß die Kaiserin reglos da, die Hände gefaltet, und murmelte Gebete für die Tote.
    Auch ich betete. Ich betete um Vergebung meiner Sünden und für meine Toten. Ich betete für meine Eltern und für Igor. Ich betete, bis die Kaiserin mir befahl, sie zu Bett zu bringen.
    Nach einiger Zeit sah Elisabeth, sanft gebettet in kaiserlicher Pracht, so aus, als wäre sie eingeschlummert. Ich stand auf, um leise hinauszuschlüpfen, da hörte ich eine leise furchtsame Stimme: »Zählt das nicht, dass ich ihn am Leben gelassen habe? Ich war milde – reicht das nicht?«
    Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass sie an Iwanuschka dachte, den kleinen Zaren, den sie vor zwanzig Jahren entthront und uns einmal in ihrem »Narrenkabinett« vorgeführt hatte. Er war sicher weggesperrt in einer Gefängniszelle, und doch konnte er der Kaiserin den Schlaf rauben.
     
    In diesen dunklen Frühlingstagen bereitete Katharina ihre Palastrevolution vor.
    Zuerst unternahm sie nur ganz vorsichtige Schritte, legte Köder aus, machte unangekündigte Besuche, die damit endeten, dass sie warnend den Finger auf die Lippen legte.
    Im provisorischen Palast zog der Großfürst in die leer stehende kaiserliche Suite ein. Wo früher Elisabeths Bett gestanden hatte, stellte er nun mit Zinnsoldaten die Schlacht von Zorndorf nach. Das Fräulein steuerte dazu fein gearbeitete Bäume und Bauernhäuschen aus Papiermaschee bei. »Ein zweifelhafter Sieg der russischen Armee«, sagte der Großfürst, wenn er sein Modell Besuchern zeigte, und präsentierte händereibend die Bilanz, die er berechnet hatte. Die Preußen hatten 12 800 Mann verloren, die
Russen mehr als 18 000. Zwar hatten die Russen am Tag der Schlacht das Feld behauptet, aber sie waren die Ersten, die danach den Rückzug antraten.
    Wie kann der Kronprinz so reden?, dachte ich. Auf welcher Seite stand er? War er ein Dummkopf oder ein Verräter?
    Ich war nicht die Einzige, die solche Fragen stellte.
    »Weißt du noch, Warenka, wie Peter mich herumkommandiert hat, als wäre ich einer seiner Soldaten?«, sagte Katharina. »Und ich durfte den ganzen Kinderkram, mit dem er spielte, nicht einmal anfassen!«
    Weißt du noch, wie brutal er seine Hunde geprügelt hat?
    Weißt du noch, wie er einmal eine Ratte exekutiert hat, die es gewagt hatte, ein paar seiner Zinnsoldaten umzuschmeißen?
    Auch das gehört zu meinen Erinnerungen an jene Zeit: dieses kalte, schneidende Gelächter, das Katharina immer anstimmte, wenn sie über ihren Mann sprach.
     
    »Die Großfürstin hat viele Freunde, Warwara Nikolajewna«, hatte Alexej Orlow gesagt. Aber es war Grigori Orlow, der an einem Vormittag im Mai im Garten des Sommerpalais, in dem Katharina Paul zur Welt gebracht hatte, unseren Weg kreuzte.
    Ich hatte Grigori so lange Zeit nicht mehr gesehen, dass ich fast vergessen hatte, wie sehr er seinem Bruder ähnelte. Die gleiche hoch aufragende Gestalt, das gleiche rabenschwarze ungebändigte Haar, die gleichen großartigen Gesten: Mit der einen Hand hielt er den staubbedeckten Umhang zusammen, den er über dem stahlblauen Rock der Ismailowski-Garde trug, die eine Hand lag auf seinem Herzen – so stand er vor uns. Aber während die Wange seines Bruders eine Narbe verunzierte, war auf der seinen nur ein dunkler Schatten zu sehen, der verriet, dass er sich heute noch nicht rasiert hatte.
    Seine Augen leuchteten. »Hören Sie mich an, ich bitte Sie, Hoheit«, sagte er mit eindringlich erhobener Stimme. »Sie kennen mich nicht, aber Warwara Nikolajewna kann für mich bürgen.«
    Ich nickte. »Er ist ein Freund«, sagte ich zu Katharina. »Leutnant Orlow und seine Brüder haben sich seit Igors Tod sehr aufmerksam um mich und Darja gekümmert.«
    »Lass uns allein, Warenka«, befahl Katharina. Amüsierte Neugier hatte ihre Wangen leicht gerötet. Sie lächelte.
    Ich zog mich zurück.
    Aus einiger Entfernung

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