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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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durchsuchen. Man fand nichts Verdächtiges, keine Knochen, keine Haarknäuel, aber eine der Ammen brach in Tränen aus und gestand, dass sie einen bösen Traum gehabt hatte: Sie hatte von einer Schlange geträumt, die einen Frosch fraß; der Frosch hatte sich mit seinen Beinchen verzweifelt an alles geklammert, was er erwischen konnte, aber es hatte ihm nichts genutzt.
    Die Kaiserin starrte die Frau an. Eine Hand zupfte nervös an ihrem Ärmel. Ihr Gesicht war schreckensstarr.
    Regen peitschte an die Fensterscheiben. Die verzogenen Rahmen schlossen nicht dicht, Wasser rann über die weiße Tapete. Ich dachte an Katharina, die sich in Oranienbaum aufhielt. Der
Garten dort sollte neu angelegt werden, und sie war hingefahren, um die anstehenden Arbeiten mit den Gärtnern zu besprechen, damit im Sommer alles fertig war. In dem grau dämmrigen Licht sah ich Annas Händchen zucken; die winzig kleinen Finger schlossen und öffneten sich, als versuchten sie, die leere Luft zu fassen.
    »Schicke jemanden zur Großfürstin, Warwara«, hörte ich Elisabeth sagen. »Sie soll herkommen, schnell.«
    Ich erinnere mich nur ganz verschwommen, was dann geschah. Ich muss in die Wachstube der Garde gelaufen sein, denn ich weiß noch, wie froh ich war, als ich das vertraute narbige Gesicht von Alexej Orlow vor mir sah. Es war so ein schwindeliges Gefühl von Erleichterung, fast Euphorie, als könne dieser eine Mann den Tod aufhalten, als würde nun alles gut. Ich muss etwas Unzusammenhängendes gestammelt haben, denn er verstand zuerst nicht, was ich von ihm wollte. »Bote«, stieß ich hervor, »schnell.« Dann sank ich an seine Brust und weinte.
    »Ich reite sofort los«, sagte Alexej Orlow. Er sagte noch etwas, aber ich hörte es nicht – es war, als bewegte er stumm die Lippen.
    Als ich ins Kinderzimmer zurückkam, saß die Kaiserin an der Wiege, legte Anna kalte Umschläge auf die Stirn und hielt ihr ein mit Rosenöl getränktes Läppchen unter die Nase. Sie schaukelte sanft die Wiege und redete ihrem Engelchen zu: Einen Diamanten, so groß wie seine schönen Augen, wollte sie dem Kindchen schenken, wenn es nur wieder gesund würde.
    Anna reagierte nicht auf Elisabeths Zuwendung.
    Die Ammen und die Ehrendamen beteten vor der Ikone der Jungfrau von Kasan. Auch ich kniete nieder.
    Drei Stunden später starb die Kleine. Sie hatte die Augen für immer geschlossen, als Katharina vollkommen durchnässt durch die Tür trat. Es waren keine Worte nötig. Ein Blick auf das versteinerte Gesicht der Kaiserin genügte, und die Großfürstin begann zu schluchzen.
     
    Der Morgen dämmerte bereits, als ich an der Wachstube vorbeiging. Durch die offene Tür sah ich Alexej Orlow hin und her stapfen, die ganze muskulöse Gestalt starr vor Anspannung. Drei Kameraden saßen eng nebeneinander auf einer hölzernen Bank und beobachteten das Schauspiel.
    Ich lehnte mich an den Türrahmen. Meine Augen brannten vom Weinen in all den schlaflosen Stunden am Totenbett des Kindes.
    Alexej stürmte auf mich zu, dass der Boden erzitterte. Ich roch seinen scharfen Schweißgeruch. Eine Anekdote aus der Familiengeschichte der Orlows kam mir in den Sinn: Als Alexejs Großvater, der wegen Meuterei zum Tod verurteilt worden war, aufs Schafott stieg, lag ihm der Kopf des Mannes, der vor ihm enthauptet worden war, im Weg. Mit einem Tritt beförderte er ihn beiseite – und wurde zum Lohn für seine Kaltblütigkeit von Peter dem Großen begnadigt.
    »Man hätte sie früher verständigen müssen. Was für ein Mensch ist das, der eine Mutter nicht zu ihrem sterbenden Kind kommen lässt, Warwara Nikolajewna?«
    Mein Blick glitt über die Narbe auf seiner Wange, den offenen Kragen des Uniformrocks, die zu Fäusten geballten Hände. Einen Moment lang wünschte auch ich mir eine einfachere Welt, in der alle bösen Taten gesühnt wurden. Auge um Auge, ohne langes Federlesen.
    »Ich habe die Großfürstin überredet, nicht die Kutsche zu nehmen. Wir sind geritten wie der Teufel. Trotzdem sind wir zu spät gekommen.«
    Hinter mir im dunklen Korridor bewegte sich etwas. Irgendein Dienstbote, der die Ohren spitzte? Ich legte den Finger auf den Mund.
    »Ich habe keine Angst«, sagte Alexej laut.
    Die Soldaten in der Wachstube spendeten ihm Beifall.
    »Ich muss jetzt gehen«, sagte ich. Mein Herz war schwer. Ich musste an Annas wächsernes Gesicht denken – sie war so voll
kommen gewesen. Ich sehnte mich danach, meine Tochter in die Arme zu nehmen. Aber als ich mich umdrehte,

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