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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Haare zu Eiszapfen gefroren, und reihten sich zitternd in die Schar der Betenden ein. In Pelze gehüllt stand im Dunkel Elisabeth Petrowna, die Tochter Peters des Großen, und flüsterte: »Und vergib mir meine Schuld, wie auch ich vergebe meinen Schuldigern.«
     
    Als die letzte Woche vor Beginn der Fastenzeit kam, die masleniza , in der man kein Fleisch, wohl aber noch Butter und andere Milchprodukte essen darf, konnte die Kaiserin nicht mehr schlafen.
    Ihre Lieblingskatzen lagen bei ihr auf dem Bett, schmiegten sich schnurrend an ihren Körper, während sie ihnen das Fell kraulte. Als abzusehen war, dass Bronja bald Junge bekommen würde, ließ die Kaiserin eine Kiste für sie neben den Ofen stellen.
    Nachts mussten in jedem Raum, in dem sie sich aufhielt, zwanzig dicke Kerzen brennen. Man ließ sie kaum jemals allein, ständig kamen Bittsteller und Diplomaten, Höflinge, alte und neue Liebhaber, und wenn sie ihre Besucher entließ, stand immer eine
Ehrendame bereit, ihr Gesellschaft zu leisten. Wenn sie das ewige Geplauder satt hatte, ließ sie ihre Kosaken rufen, die sie mit ihrem Gesang unterhielten.
    Eine Zeit lang setzte man Hoffnungen in neue Wundermittel: Galgantwurzel, die aussieht wie ein kleines menschliches Wesen; Heilwasser aus Karelien, das seinerzeit der Zarin Xenia gegen ihre Unfruchtbarkeit geholfen hatte, samtig schwarze Schungitsteine. Elisabeth kaute die Wurzel, trank das Wasser, hielt die Steinbrocken in der Hand. Sie betete. Manchmal, wenn es ihr etwas besser ging, bestellte sie die Schneiderin ein und probierte ein neues Kleid an, oder sie ließ sich ihren Schmuck aus der Schatzkammer bringen. Dann tauchte sie ihre Finger in Haufen von Edelsteinen, strich zärtlich über Ringe und Colliers und schwelgte in Erinnerungen an Bälle und Feste, bei denen sie diesen oder jenen Schmuck getragen hatte.
    Wenn Zigeunerinnen und Wahrsager kamen, wollte die Kaiserin nichts mehr von ihrer eigenen Zukunft hören, nur das Geschick des Zarewitschs interessierte sie noch.
    Der Großfürst Paul war für einen Sechsjährigen klein und schmächtig, aber niemand wagte es, dies in Gegenwart der Kaiserin auszusprechen. Er besuchte sie immer am späten Nachmittag, denn zu dieser Tageszeit fühlte sie sich am muntersten. Seine grauen Augen irrten unstet durch den Raum. Er nannte die Kaiserin »Tantchen« und flüchtete in ihre Arme, sobald ihn irgendetwas erschreckte, etwa das Knallen einer Tür oder das Krächzen einer Krähe draußen vor den Fenstern.
    Die Karten wurden aus ihrer schwarzseidenen Hülle genommen und so ausgelegt, dass sie Halbkreise oder Kreuze bildeten. »Spucken sie auf Ihre Hand und berühren Sie diese Karte, Majestät. Legen Sie eine Münze darauf. Klopfen Sie auf die Karte. Tippen Sie mit dem Zeigefinger darauf.«
    Die Auskünfte der Karten waren lückenhaft und wenig präzise. Eine Zigeunerin sah den erwachsenen Paul als verheirateten Mann mit Kindern, vielen Kindern, eine andere prophezeite, dass
er auf eine weite Reise gehen werde, die verborgene Dinge ans Licht bringen würde. Meistens sprachen die Karten aber nur von Weggabelungen, von unsicheren Versprechungen, von Perioden der Gefahr.
    »Was für eine Art von Gefahr?«, fragte Elisabeth jedes Mal.
    »Die Art von Gefahr, die vorübergeht«, antworteten die Wahrsager vorsichtig.
    Auch ich achtete genau darauf, was ich redete.
    Ich erzählte der Kaiserin nichts davon, als ich den ganzen Wurf junger Kätzchen tot in Bronjas Kiste fand. Die Zofe versicherte hoch und heilig, dass sie noch vor wenigen Stunden gesund und munter gewesen waren. Nur ein einziges habe ein bisschen verschnupft ausgesehen, schluchzte sie verängstigt.
    Ich erzählte auch nicht, dass die fromme Xenia verschwunden war. Droschkenkutscher sahen die gebeugte, in rote und grüne Lumpen gekleidete Frau nicht mehr, die sie so gerne ein Stück mitnahmen, weil ihnen das Glück brachte. Sie saß nicht mehr am Eingang der Kirche des Apostels Matwej, und die Bäcker warteten vergebens auf eine Gelegenheit, ihr eine der Zimtschnecken zu schenken, die sie so liebte. Niemand wusste, wo sie war, bis eines Tages ein junger Mönch sie außerhalb der Stadt auf einem Feld knien sah, ins Gebet versunken.
    Stattdessen tischte ich ihr Geschichten von Wundern auf, von Heiligen, unter deren Händen sich Krebsgeschwülste in Nichts auflösten, von Mönchen, deren Segen das Blut reinigte, von Reliquien, bei deren Anblick Krüppel ihre Krücken wegwarfen, Todkranke von ihren Bahren aufstanden

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