Der Winterpalast
einmal die Kutsche vom Tisch geworfen hatte. Ich erwähnte nicht, dass Peter jedes Mal, wenn Professor Staehlin ihn ermahnte, nicht an seiner Wange zu kratzen oder an seinem Ohr zu zupfen, mit blankem Erstaunen reagierte, als ob er überhaupt nicht bemerkt hätte, dass seine Hände umherwanderten.
Elisabeth schloss die Augen. Ich redete weiter.
Der Großfürst fürchtete, seine Verlobte sei zu mager. Professor Staehlin versuchte ihn zu beruhigen, die Prinzessin werde bestimmt mehr Fleisch ansetzen, sobald sie sich an das ausgezeichnete russische Essen gewöhnt habe. »Wenn doch nur alle Frauen so üppig und weich wären wie unsere Kaiserin«, hatte Staehlin geseufzt.
»Das hat er gesagt, der alte Schmeichler?«, fragte meine Herrin. Ich hatte gewusst, dass sie so reagieren würde.
»Ja, Majestät.«
»Und was meinte Peter dazu?«
»Das hat ihm gefallen.«
Durch die Vorhänge drang schon das dämmrige Licht des frühen Morgens. Ich redete leise und hoffte, Elisabeth würde endlich einschlummern.
Der Großfürst hatte wissen wollen, was man mit einer Verlobten eigentlich anfängt. Ob er sie küssen müsse, hatte er mehrmals gefragt, und als ich ihm sagte, ja, unbedingt, war er rot geworden.
Er hatte noch mehr Fragen: Ob er immer noch weiter Anstands- und Tanzunterricht nehmen müsse, wenn er verheiratet wäre? Oder ob er dann seine ungeteilte Aufmerksamkeit seinem Regiment zuwenden dürfe? Ob es Prinzessin Sophie wohl Spaß ma
chen würde, ihm dabei zuzusehen, wenn er seine Truppen exerzieren ließe? Immerhin war ihr Vater auch Offizier.
Die Kaiserin schloss die Augen.
Ich plauderte weiter: Ganz Petersburg erwartete gespannt die Ankunft der Prinzessin von Anhalt-Zerbst. Jongleure übten neue Nummern ein, Wahrsagerinnen prophezeiten Glück und Freude.
Sobald ich ein erstes leises Schnarchen vernahm, zupfte ich die Silberfuchsdecke über den Füßen der Kaiserin zurecht, wischte mir das Öl von den Händen und schlüpfte hinaus. Die Kerze ließ ich wie immer brennen.
Die Berichte der Geheimkanzlei über den Verlauf der mehr als einen Monat dauernden Reise von Prinzessin Sophie kamen in edel gebundenen Aktendeckeln, die mit grünen Bändern verschnürt und mit Wachs versiegelt waren. Sie waren von ernüchternder Offenheit – unter anderem wussten sie von geflickten Strümpfen und grobleinener Unterwäsche zu erzählen. Das Schloss der Familie von Anhalt-Zerbst war ein so armseliger Bau, dass niemand in Sankt Petersburg es auch nur eines Blickes gewürdigt hätte.
Nachdem die Einladung aus Russland am Neujahrstag eingetroffen war, so wurde berichtet, hatte Sophies Vater volle drei Tage gezögert, ehe er endlich seine Einwilligung zu der Reise gab. Seine Bedenken waren religiöser Natur: Wenn seine Tochter den russischen Kronprinzen heiratete, musste sie zu einem fremden Glauben übertreten. »Dürfen wir das Seelenheil unserer Tochter für irdischen Tand aufs Spiel setzen? Wie könnten wir zulassen, dass sie Götzen verehrt?«, hatte er gefragt. »Wenn ich auf dich gehört hätte, säßen wir immer noch in Stettin«, hatte seine Frau erwidert, aber sie war doch damit einverstanden gewesen, dass man fürs Erste ihrer Tochter nichts von der Einladung Elisabeths erzählte: »Sie soll sich nicht unnötig aufregen, solange noch nichts entschieden ist.« Es war die Rede von einer heimlichen Verlobung Sophies mit ihrem Onkel gewesen, aber die Anhalt-Zerbsts wa
ren nicht so einfältig, dass sie nicht erkannt hätten, welche von beiden die bessere Partie war. Es mochte der Prinzessin etwas zu gut gefallen haben, auf dem Schoß des Onkels zu sitzen, doch sie war noch Jungfrau.
»Sie reisen mit nur vier Kutschen, und selbst die bezahlen nicht sie, sondern die Kaiserin«, sagte der Kanzler höhnisch, als er mir die Depeschen seiner Spione übergab.
Sie erzählten von kleinen Zankereien wegen verlorener Kämme und Wanzen. Eine Zofe bestätigte, dass Sophie bis zum Alter von sieben Jahren ein Stützkorsett getragen hatte, aber jetzt war von einer Verkrümmung der Wirbelsäule nichts mehr zu bemerken, meldeten die Spione.
Die Prinzessin und ihre Mutter reisten in Kutschen ohne Wappenschmuck als Gräfin Reinbeck mit Tochter Figchen – »kleine Feige«, so hatte man Sophie als kleines Mädchen genannt, weil sie so rund und süß war. Die Fürstin klagte unaufhörlich über den Winter, der das Reisen so beschwerlich mache.
Die Wagenspuren auf den Straßen waren steinhart gefroren. Die Fremdenzimmer in den
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