Der Winterpalast
Licht. Es war ein sehr edles Stück, das Sophie weit mehr gekostet haben musste, als sie sich leisten konnte. In honigfarbenem Harz waren zwei Bienen in enger Umarmung eingeschlossen.
Ich bewunderte die geknickten zarten Beinchen der Tiere, die zusammengeklappten Flügel, die gekrümmten Hinterleiber mit den unsichtbaren Stacheln.
Wie waren diese Bienen wohl gestorben? War es Pflichtgefühl oder Hunger, was sie in dasselbe klebrige Grab getrieben hatte? Oder ein neugieriger Drang, etwas zu erkunden, das ihnen ein für alle Mal versagt und verboten war? Der Mut, mehr zu wollen? Der Wunsch, einander beizustehen, auch wenn es den Tod bedeutete?
Wir sind beide fremd hier.
Ist das der Grund, warum ich es tat? Warum ich zum ersten Mal sehenden Auges gegen alle Gebote handelte? Um mir diese süße Wärme zu erhalten, die ich so lange nicht mehr gespürt hatte, dass ich sie schon fast vergessen hatte? Wenigstens für ein paar Mo
mente, bevor Furcht und Vorsicht wieder Besitz von mir ergriffen? Oder war es Mitleid und damit im Grunde die reine Anmaßung? Wollte ich ihr beibringen, wie man hier am Hof am besten bestand, war das mein Geschenk für sie?
Denn sie hatte sich mit ihrer närrischen Schreiberei in größte Gefahr gebracht.
Nicht mit der Niederschrift von Lebensweisheiten und ehrgeizigen Vorsätzen, sich zu vervollkommnen, nicht mit ihrem literarischen Selbstporträt, in dem sie sich eine »fünfzehnjährige Philosophin« nannte, obwohl ihr fünfzehnter Geburtstag noch bevorstand, sondern mit einem Text auf einem Blatt, das ich zuunterst in ihrer Schreibtischschublade fand:
GEDANKEN EINES ELEFANTEN
Prächtig aufgeputzt kommt ihr daher, ihr seht mich und ruft voller Staunen aus: »Was für ein gewaltiges Tier, so stark und doch so fügsam!« Ihr glaubt, ich hätte mich mit meinem Gefangenendasein abgefunden, ihr dünkt euch groß, weil ihr einen Riesen zu eurem Sklaven gemacht habt.
Ihr redet davon, mir eine Gemahlin zu besorgen, ihr macht Pläne, was mit meinen noch ungeborenen Kindern geschehen soll, eitle Pläne, denn ein Elefant wird sich nie fortpflanzen, um dem Tyrannen, der ihm die Freiheit geraubt hat, weitere Sklaven zu liefern.
Ihr beobachtet mich, aber ich meinerseits beobachte euch, ich finde euch klein und ängstlich, erbarmungswürdige Geschöpfe, und ich gebe euch diese Mahnung mit auf den Weg:
Erkennt die Vorzüge einer einfachen, bescheidenen und natürlichen Lebensweise. Gehorcht der Vernunft und nicht der Furcht. Beugt eure Knie vor Königen, doch nicht vor Tyrannen.
Das ist die Weisheit der Elefanten.
Lange hielt ich das Blatt in meinen Händen, betrachtete die eleganten ebenmäßigen Bögen mit Sophies Handschrift, die langgezogenen Buchstaben f und l . Ich stellte mir das boshafte Entzücken des Kanzlers vor, hörte im Geist das Lob, das er mir spenden würde.
Und ich stellte mir vor, wie Elisabeth reagieren würde, ihren Zorn.
Auf einem Silbertablett stand neben Flaschen mit Gersten- und Lavendelwasser eine Kerze. Ich zündete sie an.
Ich hielt das Papier in die Flamme, sah zu, wie die Worte verbrannten, die Sophie niemals hätte schreiben dürfen. Dann löschte ich das Feuer und ließ die verkohlten Reste des Blatts auf dem Tablett liegen.
Ich hoffte, Sophie würde verstehen, was das bedeutete.
Ich betete, dass mich niemand beobachtete.
»Es kann nicht sein, dass die kleine Hausfrau immer alles richtig macht, Warwara«, sagte der Kanzler gereizt, als ich ihm berichtete, dass Sophie bis spät in die Nacht russische Vokabeln und orthodoxe Gebete lernte. »Die Prinzessin von Anhalt-Zerbst ist keine Heilige, das ist unmöglich.«
Ich bemühte mich, nicht daran zu denken, wie zerbrechlich und blass sie ausgesehen hatte, als ihre Mutter ihr eine Standpauke hielt, wie flehend ihr Blick gewesen war, als sie mich um Hilfe bat. Sicher würde ihr schon bald wieder ein Fehler unterlaufen, sie würde allzu sorglos irgendetwas niederschreiben, das verriet, wie enttäuscht sie von dem Großfürsten war oder vielleicht sogar von der Kaiserin. Und dann würde man sie geschlagen und gedemütigt nach Hause schicken.
Ich hatte ihr einmal geholfen, aber ich konnte mich nicht auf Dauer den Wünschen des Kanzlers widersetzen. Ein einziges Wort von ihm würde genügen, mich zu vernichten. Sophie würde mich nicht retten – was konnte sie schon gegen ihn ausrichten?
Ich machte mir keine Illusionen. Ich war ein kleines Meeres
lebewesen, das sich an einen Felsen klammert. Über
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