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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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gerändert. Die nächsten Minuten würden über ihre ganze Zukunft entscheiden.
    Die Tür ging auf, die Soldaten führten die beiden zur Kaiserin.
    Auf dem Gang hörte ich gedämpfte Schritte. Sicher drückten
die Wachposten ihre Ohren an die Tür. Natürlich – was hier geboten wurde, war allerbeste Unterhaltung: die Demütigung hoher Herrschaften. Am nächsten Tag würde man überall im Palast genüsslich die Details erörtern: in heller Panik eingenässte Unterwäsche, bis aufs blutige Fleisch abgebissene Fingernägel, Hände, die noch am Morgen so sehr zitterten, dass sie die Kaffeetasse nicht halten konnten.
    Die Stimme der Kaiserin ließ die Wände erzittern. Ein barbarisches Land? … eine verblendete, eitle Frau, die sich anmaßt, ein Reich zu regieren!
    Was für ein Vertrauensbruch! Sie hatte eine Giftschlange an ihrem Busen genährt. Russland war verhöhnt, verleumdet, erniedrigt worden. Von so einer dahergelaufenen nichtswürdigen Person. Von einer deutschen Hure!
    Ist das die deutsche Art, Gastfreundschaft zu vergelten?
    Ist das die deutsche Art, Wohltaten zu erwidern?
    Ist das die deutsche Auffassung von Loyalität und Dankbarkeit?
    Undankbares Luder!
    Verräterin!
    Dann hörte ich Katharinas Stimme.
    »Majestät, Sie haben mir das Leben gerettet. Sie haben mich wie Ihr eigenes geliebtes Kind behandelt. Wie Ihre eigene Tochter. Sie haben so viel für meine Familie getan, und ich habe mich bemüht, mich Ihres Vertrauens würdig zu erweisen, aber jetzt habe ich alles verloren!
    Ich habe keine Mutter mehr – wie könnte ich eine Frau, die meine Wohltäterin so hintergangen hat, noch Mutter nennen? Ich werde gemeinsam mit ihr das Land verlassen, wie es Euer Hoheit befehlen, aber ich bitte Sie: Schicken Sie mich nicht fort ohne Ihren Segen.«
    »Hör gut zu, du undankbares Scheusal!«, schrie die Kaiserin. »Hör die Worte einer Tochter, die du nicht verdient hast! Aus meinen Augen! Fort!«
    Etwas knallte auf den Fußboden, und dann ertönte das erlösende Wort, auf das ich, und nicht nur ich, gewartet hatte:
    »Allein!«
    Die Tür ging auf, und Fürstin Johanna taumelte heraus, stumm, als steckte ihr die Demütigung wie ein Kloß in der Kehle.
     
    Ich verließ mein Versteck und ging fort, vorbei an dem Lakaien, an den Wachposten. Sie hätten ohne Zweifel gerne Genaueres von mir erfahren, aber ich ignorierte ihre erwartungsvollen Blicke. All meine Gedanken und Gefühle flossen zusammen zu einem Gebet, einer inneren Beschwörung: Mach, dass das ein neuer Anfang wird, lass es ein gutes Omen sein. Lass es uns eine Lehre sein, die wir nie vergessen und die wir beherzigen werden, wenn wieder schwere Zeiten kommen.
    Die Dielen knarzten unter meinen Schritten. In der trockenen Winterluft schwand das Holz, je mehr Feuchtigkeit es verlor. Wenn es auf den Frühling zuging, taten sich in den Bodenbrettern und Paneelen immer größere Risse und Spalten auf.
    Lass uns wachsam sein, betete ich, damit wir unser wahres Wesen vor denen verbergen können, die uns so gut zu kennen meinen. Die glauben, wir wären mit Leib und Seele ihr Eigentum. 
    Mir war klar, dass der Kanzler sich seine Enttäuschung nicht hatte anmerken lassen. Er hatte Johannas törichte Briefe eingesammelt, sich verneigt und war gegangen. Jetzt saß er in seinem Arbeitszimmer vor dem Kamin und starrte ins Feuer, neben sich auf einem Tischchen eine Flasche Wodka.
    Er würde mich in der nächsten Zeit nicht zu sich rufen. Er brauchte schmiegsame Lippen, Hände, die ihm willig Trost spendeten, Gedanken, vor denen er nicht ständig auf der Hut sein musste. Er brauchte Augen, ungetrübt von jedem Zweifel, in denen er sich spiegeln, ein von Furcht erweichtes Herz, das er und er allein formen konnte.
    Komm mir nie in die Quere, Warwara , hatte er gesagt. Glaub ja nie, du könntest mich für dumm verkaufen.
    Es war mir egal. Katharina durfte bleiben. Sie war in Sicherheit.
    Ich war nicht mehr allein.
    In dieser Nacht wartete ich stundenlang vor ihrem Zimmer. Als sie endlich kam, glitzerten Tränen auf ihren Wangen. Ich hielt sie in den Armen wie ein Kind, redete sanft auf sie ein, strich ihr über das seidige Haar.
    »Es ist gut«, murmelte ich. »Sie sind sicher, Katharina, alles wird gut werden. Hat der Kanzler noch etwas gesagt, bevor er ging?«
    »Er sagte, er vertraue voll und ganz dem überlegenen Urteilsvermögen der Kaiserin. Er wisse, dass sie bei allen ihren Entscheidungen einzig das Wohl Russlands im Sinn habe. Aber er kam immer wieder auf die

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