Der Winterpalast
Briefe zurück, er wollte unbedingt, dass sie alle las.«
Er ist ein schlauer Fuchs, dachte ich. Mitgefangen, mitgehangen. Die Schuld der Mutter sollte auf die Tochter abfärben. Er konnte der Kaiserin nicht widersprechen, wenn sie Katharina verschonte, aber er konnte ihren Zorn weiter anfachen.
»Schließlich sagte sie, er solle ihr diesen widerlichen Schmutz aus den Augen schaffen. Sie warf die Briefe auf den Boden, und er musste sich bücken und sie wieder zusammenklauben. Einen nach dem anderen.«
Sie blickte auf und lächelte. Ich stutzte verblüfft: Es war das Lächeln eines schadenfrohen Kindes.
Im April 1745 zogen drei Tage lang Herolde, begleitet von Trommlern, durch Sankt Petersburg und verkündeten, dass am 21. August die Hochzeit des Kronprinzen stattfinden sollte. Auf kaiserlichen Befehl sollten die höchsten Adeligen des Reichs bald Vorauszahlungen erhalten, die ihnen erlaubten, sich für den großen Tag angemessen auszustaffieren. Sobald die Ostsee eisfrei war, brachten Schiffe Tuch, Kutschen, französische Galanteriewaren und Wein. Nur englische Seide wurde in Sankt Petersburg noch
höher geschätzt als die aus Preußen, besonders Stoffe in Weiß und in hellen Farbtönen mit großen Blumenmustern in Gold und Silber. Von Katharinas Vater kam eine Sendung Zerbster Bier, das aber wenig Anklang fand: Die Russen erklärten, es sei dünn und fade.
Die Kaiserin überwachte die Festvorbereitungen bis ins Detail und änderte beim kleinsten Anlass ihre Meinung. Eine Zeit lang wollte sie, dass das junge Paar, bevor es zur Kathedrale fuhr, im Bernsteinzimmer des Palasts gesegnet würde, doch dann fand sie, dass der Raum zu klein für diese Zeremonie sei. Als Hochzeitskutsche war eine Berline vorgesehen, ein prächtiges Gefährt mit einem Aufbau aus Glas, in dem Braut und Bräutigam zusammen mit der Kaiserin wie Juwelen in einer Vitrine beim Hochzeitszug vom Volk bewundert werden konnten. Sollte sie mit Blumen geschmückt werden, oder würde die Eleganz der reichen Vergoldungen ohne solche Dekoration besser zur Wirkung kommen? Die Kaiserin schwankte hin und her. Aber dann, an dem Tag, als sie den Vertrag mit dem französischen Kutschenbauer unterschreiben sollte, knallte ein Vogel gegen ein Fenster ihres Schlafzimmers, und sie wollte von dem Projekt nichts mehr hören.
Der Kanzler hatte mich seit dem Sturz der Fürstin Johanna nicht mehr zu sich rufen lassen, aber ich hatte im Dienst der Kaiserin so viel zu tun, dass mich das nicht weiter beschäftigte. Er hatte sich von Rückschlägen nie entmutigen lassen, und auch jetzt verstand er es, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen: Bei allen Audienzen pries er die Vorzüge der künftigen Gemahlin des Thronfolgers, als ob er nie anderer Meinung gewesen wäre.
Du hast keine Freunde, Warwara , hatte er mir immer gesagt, du hast Absichten und Ziele. Und die Zeit verändert alles. Du musst vom Fuchs und vom Löwen lernen: Der Fuchs kann nicht gegen ein Rudel Wölfe kämpfen, und der Löwe ist nicht schlau genug, um die Falle zu erkennen, die man ihm gestellt hat.
Die Kaiserin hatte verfügt, dass Fürstin Johanna erst nach der Hochzeit abreisen sollte. »Ich möchte nicht, dass schlecht geredet wird«, sagte sie. Ich sah ihr an, was sie dachte, wenn sie ihre besiegte Nebenbuhlerin musterte: Nicht alle Töchter sind wie ihre Mütter. Verrat ist nicht ansteckend.
Fürstin Johanna tat gehorsam alles, was man ihr befohlen hatte. Schweigend nahm sie die zuckersüßen Lobeshymnen über ihr Kind und die scharfen Blicke der Kaiserin hin. Alle Besucher wurden abgewiesen. Wenn ich an ihrem Zimmer vorbeikam, sah ich manchmal Dienstboten mit Körben und Kisten ein und aus gehen, offenbar damit beschäftigt, die Sachen der Fürstin zu packen.
Ich sprach vor der Hochzeit nur einmal mit ihr. Sie hatte sich ausnahmsweise aus ihrem Zimmer gewagt – offenbar hatte sie irgendetwas zu erledigen – und war im Palast unterwegs, eine sonderbar gedrückte Gestalt, die verstohlen dahinhuschte, die Pupillen von Belladonna geweitet. Als sie mich sah, blieb sie abrupt stehen und zwang sich dazu – vielleicht weil zwei Palastwachen in Hörweite waren –, mich zu grüßen.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte sie. Ihre Stimme klang angespannt.
»Ja«, sagte ich, »danke der Nachfrage, Durchlaucht. Ich hoffe, Ihnen geht es auch gut?«
»O ja. Ich bin froh, dass ich bald wieder nach Hause fahren kann. Ich habe noch mehr Kinder, die mich brauchen. Sophie kommt ja gut ohne mich
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