Der Winterpalast
Großfürsten verbrannten, um die Luft zu reinigen. Eine Kerze flackerte. Irgendwo auf dem Dach des Palasts schrie eine Eule.
Konnte das Leben je wieder einfach werden? Würde ich je wieder mit einem leichten Herzen aufwachen?
Ich dachte an die Hände des Kanzlers, daran, wie seine Fingerkuppen über meine Haut strichen. Ich dachte an das Fegefeuer, wo all unsere Sünden und all unsere guten Taten auf die beiden Waagschalen gelegt werden. Was würde schwerer wiegen? Das Mitleid oder die Gier? Das Erbarmen oder der Verrat?
Ich dachte daran, dass die Lebenden für die Toten beten.
Wer würde einmal für mich beten?
Irgendwann schlief ich ein, und als ich erwachte, hielt ich den Bernstein noch immer in der Hand.
Am ersten Sonntag im März 1745 um Mitternacht läutete die Glocke der Kathedrale feierlich die Fastenzeit ein.
Der Bibel zufolge, so lehrten es die Priester, ernährten sich die Menschen vor der Sintflut allein von den Früchten der Erde, die
sie mit harter, mühevoller Arbeit gewannen. So sollten auch jetzt die Gläubigen während der Fastenzeit nur das absolut Lebensnotwendige zu sich nehmen als Buße für ihre Sünden.
Die Kaiserin war noch erschöpft von den Strapazen der langen Krankenpflege und bekam deswegen die Erlaubnis, zweimal pro Woche Fisch zu essen. Der Großfürst war als Rekonvaleszent ganz vom Fasten dispensiert. Er brauchte auch nicht zum Gottesdienst zu gehen, sondern empfing die Kommunion in seinem Schlafzimmer.
Nur Katharina aß nichts als Brot und gekochtes Gemüse. Sie trank Wasser anstelle von Wein und ließ die Sahne zum Kaffee weg. Sie ging mit der Kaiserin zur Messe und zur Kommunion, und anschließend sammelte sie in ihren Gemächern ihre Ehrendamen zu privaten Andachten um sich.
Sie schickte auch weiterhin dem Großfürsten Geschenke, etwa eine Garnitur Zinnsoldaten, passend zu dieser oder jener berühmten Schlacht, die er im Sandkasten nachspielen wollte, oder eine polnische Gitarre mit Saiten aus Katzendarm statt aus Stahl.
Er weigerte sich, seine Verlobte zu empfangen. Wenn er von ihr sprach, nannte er sie niemals bei ihrem Namen, sondern immer nur »sie«.
»Ist sie schon wieder da? Hat sie sonst nichts zu tun? Sagen Sie ihr, ich bin mit meiner Musik beschäftigt. Sagen Sie ihr, ich habe keine Zeit; ich muss einen wichtigen Brief schreiben.«
Ich hätte ihm nur allzu gerne die Meinung gesagt, aber das war natürlich unmöglich, schließlich war er der Kronprinz. Ich konnte nur seine mürrische Miene ignorieren und wiederholen: »Die Großfürstin lässt fragen, ob sie später wiederkommen darf. Es macht ihr auch nichts aus, wenn sie warten muss.«
Katharina saß geduldig stundenlang im Vorzimmer, bis er endlich nachgab und mir befahl, sie einzulassen. Wenn ich dann die Tür öffnete, sah sie blass und erschöpft aus.
Ich hoffte, dass niemand außer mir ihre Tränen bemerkte.
Manchmal wandte er ihr den Rücken zu und redete kein Wort
mit ihr. Manchmal verlangte er, sie solle sich »nützlich machen«. Das bedeutete, dass sie Zinnsoldaten auf einem Modell-Schlachtfeld aufstellen oder ihm Teile von Befestigungsanlagen reichen musste, die er zusammenbaute. »Sie sind wirklich zu gar nichts zu gebrauchen!«, schimpfte er, wenn sie Figuren falsch platziert hatte.
Wenn er schließlich verfügte, dass der Besuch beendet sei, ging sie gehorsam, das blasse Gesicht ernst und vollkommen unergründlich.
»Die roten Narben werden verblassen«, sagte sie, wenn jemand sie nach ihrem Verlobten fragte. »Seine Haare werden wieder wachsen. Er hat überlebt, alles andere ist nicht so wichtig.«
Der Kaiserin erzählte sie, dass der Großfürst davon spreche, wie dankbar er ihr sei. »Eure Majestät hat ihm das Leben gerettet. Keine Mutter hätte mehr für ihren Sohn tun können.«
Sie küsste Elisabeth die Hände. »Jetzt ist es meine Pflicht, ihn glücklich zu machen«, sagte sie.
Ich beobachtete sie genau: das leichte Erröten, die bescheidene Neigung des Kopfs, das Schimmern der von Ehrfurcht und Dankbarkeit geweiteten Augen, es war alles perfekt. Sie hatte ihre Lektion gelernt: Niemand würde ihr je wieder Abscheu oder Furcht ansehen.
Wenn man lange genug eine Rolle spielt, wird die Täuschung Teil der eigentlichen Persönlichkeit.
Ich war nicht die Einzige, der die Veränderungen im Verhalten der Großfürstin auffielen. Selbst der Kanzler zeigte sich beeindruckt: Er hörte auf, sie »die kleine Hausfrau« zu nennen, und lächelte nicht mehr jedes Mal herablassend,
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