Der Winterpalast
aufgeschlossen.
»Man sagt, der Kanzler steckt dahinter«, meinte Mascha.
Ich hatte keinen Zweifel daran. Ich konnte mir vorstellen, wie er die Kaiserin bearbeitete: »Ständige Nähe, Hoheit, keine Ablenkungen. Man muss sie täglich daran erinnern, was ihre oberste Pflicht gegenüber Eurer Majestät ist, die so viel für sie getan hat.«
Wenn sie ihren Willen durchgesetzt hatte, würde die Kaiserin sich wieder anderen Dingen zuwenden. Ihr Vergnügen würde sie ganz in Anspruch nehmen – ein neuer Tanz, eine Lieferung französischer Seidenstoffe, ein neuer Favorit. Von Zeit zu Zeit würden die »Mondkinder« ihr prächtig gekleidet ihre Aufwartung ma
chen dürfen, um vor der versammelten Hofgesellschaft ihre Dankbarkeit zu beteuern, bevor sie wieder entlassen wurden.
Ich stellte mir Katharina vor, wie sie dem Großfürsten zuschaute, wenn er seine Zinnsoldaten aufstellte, oder ihm aus dem Buch über russische Festungen vorlas, wie ich es getan hatte. Ob die Tschoglokows sich wirklich so unerbittlich streng an die Anweisungen des Kanzlers hielten? Vielleicht ließen sie sich doch erweichen und gaben einen Brief an Katharina weiter, wenn ich ihnen etwas Geld zusteckte? Zweimal machte ich einen Anlauf, der Großfürstin zu schreiben, nur ein paar Worte der Ermutigung, aber ich warf die Briefe ins Feuer. Der Gedanke an all die Augen, die diese Zeilen lesen würden, bevor sie Katharina erreichten, war mir unerträglich.
Am Sonntag, dem 3. November, wachte ich von dem Gefühl auf, dass etwas Warmes aus mir herauslief. Ich fasste mir zwischen die Beine. Meine Hand war blutverschmiert. Dann ein Krampf, ein scharfer Schmerz. Ich schrie nach Mascha, aber als sie angerannt kam, konnte sie nichts mehr tun als das Laken abzuziehen und es fortzuschaffen. Irgendwo in dem besudelten Leintuch lag winzig klein die Leiche eines Sohnes, der nicht hatte geboren werden wollen.
»Ich will ihn sehen«, bettelte ich, aber Mascha ließ es nicht zu. Es sei nicht gut für eine Mutter, wenn sie einen noch unentwickelten Fötus sehe. »Es war ein ganz normal gebildetes Kind«, beruhigte sie mich, »nur eben noch nicht lebenstüchtig.«
Aber ich ließ mich nicht trösten. Als ich so fiebrig und von Schmerzen gepeinigt dalag, kam die Erinnerung an die Missbildungen im Museum Peters des Großen wieder. Was willst du hier? , riefen sie erbost. Was starrst du uns so neugierig an? Wieso willst du unbedingt sehen, was niemand sehen sollte?
Laudanum half nichts. Ich magerte ab und wurde täglich blasser, ich hatte keinen Appetit. Die Dienstboten gingen mit ernsten Mienen auf Zehenspitzen umher und bekreuzigten sich bei
meinem Anblick, als wäre ich schon tot. Mascha drängte mir bitter schmeckenden Kräutertee auf, der mein Blut reinigen sollte, aber ich spuckte ihn wieder aus.
Ich habe nur noch wenige Erinnerungen an die folgenden Wochen. Geflüster und ferne Entsetzensschreie, ein Geschmack von Holzmehl auf der Zunge. Einmal war mir, als säße meine Mutter, über ihren Stickrahmen gebeugt, am Fenster. Sie blickte auf, und als ich mich im Bett aufrichtete und die Hand nach ihr ausstreckte, sah ich, dass sie die Augen von Madame Kluge hatte.
Vom Korridor her drang Igors Stimme herein, der den Dienstboten Anweisungen gab. Ich hörte seine eiligen Schritte und das Schlagen von Türen. Einmal wachte ich von dem Gefühl auf, dass er anwesend war. Er saß auf dem Rand des Betts und streichelte meine Hand, aber ich hielt die Augen geschlossen. Irgendwann seufzte er tief und ging weg.
Mascha drückte mir das Kästchen aus Birkenrinde in die Hand. »Der Herr hat gesagt, ich soll es Ihnen geben«, sagte sie. »Die Großfürstin hat es geschickt.«
»Katharina?«, flüsterte ich mit ausgedörrten Lippen.
Am Geburtstag der Kaiserin war die Großfürstin nach dem Festbankett zum Herrn getreten, berichtete Mascha, und hatte sich nach mir erkundigt. Als sie erfahren hatte, dass ich krank war, hatte sie ihm das Kästchen als Geschenk für mich mitgegeben.
Tränen schossen mir in die Augen.
»Der Herr meinte, es würde Sie freuen«, fuhr Mascha fort. Offenbar war ihr nicht entgangen, dass sich mein Gesicht verdüstert hatte, als sie Igor erwähnte, denn sie schnalzte tadelnd mit der Zunge, während sie meine Nachtmütze zurechtrückte, und ihr schielendes Auge zog sich tief in seine Höhle zurück.
Ich bemühte mich, meine Gedanken zu sammeln und den Nebel, der mich umgab, zu durchdringen. Sie hatte vom Geburtstag der Kaiserin gesprochen, also
Weitere Kostenlose Bücher